Journal of Linguistics and Language Teaching
10th Anniversary Issue (2020), 53-69
Subjektivität und Sprachgebrauch –
Anregungen Michel Bréals für eine
linguistische Pragmatik?
Heinz-Helmut Lüger (Koblenz-Landau, Deutschland)
Abstract (English)
The role of Michel Bréal in the development of modern linguistics is judged very differently. Is Bréal the "inventor" of the word semantics (Touratier 2000), can his Essai de sémantique from 1897 even be considered as revolutionary (Tamba-Mecz 1988) or as the foundation of a new linguistic sub-discipline (Schmehl 2006)? Or did Bréal merely continue the tradition of historical-comparative linguistics (Brekle 1972) and produce hardly anything new (Coseriu 2000)? Irrespective of these assessments, the following article will examine to what extent a first approach towards linguistic pragmatics can be found in Bréal’s works. The focus will be on the reflections made on L'élément subjectif in his Essai de sémantique. At the same time, a chapter of this work will be presented in German translation for the first time.
Keywords: Intonation, mode, particle, pragmatics, adverb, speech act, listener, subject
Abstract (Français)
Le rôle de Michel Bréal dans le développement de la linguistique moderne est jugé de manière très différente. Bréal est-il "l'inventeur" du mot sémantique (Touratier 2000), son Essai de sémantique de 1897 peut-il même être considéré comme révolutionnaire (Tamba-Mecz 1988) ou comme le fondement d'une nouvelle sous-discipline linguistique (Schmehl 2006) ? Ou bien Bréal a-t-il simplement poursuivi la tradition de la linguistique comparative historique (Brekle 1972) et n'a-t-il pratiquement rien produit de nouveau (Coseriu 2000) ? Indépendamment de ces évaluations, cet article examinera la question de savoir dans quelle mesure on peut trouver les premières approches de la pragmatique linguistique dans l’oeuvre de Bréal. Pour ce faire, l'accent est mis sur les commentaires de L'élément subjectif de l'Essai de sémantique. En même temps, un chapitre de cet écrit est, pour la première fois, présenté en traduction allemande .
Mots-clés: Intonation, mode, particle, pragmatique, adverbe, acte de parole, locuteur, destinateur, sujet
1 Bréal und die Leser
Von wissenschaftlichen Beiträgen werden in der Regel möglichst objektive Sachinformationen erwartet, also fachlich begründete Aussagen, die frei sind von allen emotionalen oder subjektiven Bezügen. Eine solche Form der Sachlichkeit abstrahiert gewissermaßen von jeglichem Eingebundensein in eine konkrete Kommunikationssituation; persönliche Merkmale des Textproduzenten (seine Rolle, seine Intentionen), die Hinwendung zu verschiedenen Adressatengruppen (Lesern unterschiedlicher Herkunft und mit divergierenden Positionen und Interessen) und auch die gegebenen Bedingungen der Texterstellung (zeitlicher Rahmen und andere Voraussetzungen) bleiben ohne Relevanz. So zumindest das Ideal einer subjekt-entbundenen, affektleeren, entpragmatisierten Wissenschaftssprache (Hoffmann 2017: 220f).
Auf das Fiktive und letztlich Uneinlösbare des Objektivitätsideals ist bereits mehrfach hingewiesen worden. Man könnte sogar weiter fragen, ob ein derartiges Stilpostulat mit dem Verzicht auf umgangssprachliches oder emotionales Vokabular, der Tendenz zur Deagentivierung, dem Ich-Tabu oder dem Verzicht auf Formen der Leser-Anrede nicht eine besondere Form von subjektiver Wissenschaftssprache darstellt:
Grundlegend ist die Annahme, dass menschliches Erkennen und Handeln nie einfach gegeben, sondern immer schon symbolvermittelt ist. [...] Am Anfang jeder Wirklichkeitserfahrung steht also eine Interpretation. Vor diesem Hintergrund wird eine wissenschaftliche Haltung zweifelhaft, die sich ganz zentral über das Ideal der Subjektentbundenheit und Sachlichkeit definiert und die Möglichkeit eines unmittelbaren Zugriffs auf die Welt behauptet. (Drescher 2003: 69)
Insofern erscheint es keineswegs inkonsequent, wenn sich bezüglich des wissenschaftssprachlichen Stilideals längst gewisse Aufweichungen und informelle Auflockerungen ergeben haben; dies dürfte speziell für Studienbücher gelten (man vergleiche etwa die Sprachgestaltung in Ehrhardt & Heringer 2011).
Ein recht frühes Beispiel liefert in dieser Hinsicht auch Michel Bréal mit seinem Essai de sémantique von 1897. Adressatenorientierte Formulierungen, Emotionskundgaben, beziehungsorientierte Verfahren, u.a. Möglichkeiten zur Reduzierung von Imageverletzungen, Maßnahmen zur Fokussierung, Zusatzhandlungen in Richtung Aufmerksamkeitssteuerung und Selbstdarstellung sind hier an der Tagesordnung (Lüger 2016, 2018; zu den Methoden: Olszewska 2015). Aus dem hier herangezogenen Kapitel L’élément subjectif seien nur einige Beispiele genannt.
Äußerst markant ist bereits die lesewerbende Eröffnung des Kapitels: Das Subjektive im Sprachgebrauch wird eingeführt in Form eines handelnden Menschen, eines Impresarios, der mit persönlichen Kommentaren und Emotionskundgaben in den Textverlauf eingreift (234, [1]) – eine in sprachwissenschaftlichen Texten eher ungewöhnliche Methode der Veranschaulichung(1). Distanzmindernd wirkt sodann der durchgehende Gebrauch der Ich-Form, und auch das meist leserinklusiv eingesetzte Pronomen nous bzw. wir sorgt für eine Verstärkung der Nähekommunikation:
Plus nous remontons haut dans le passé, plus nous en trouvons. / Je weiter wir in die Vergangenheit zurückgehen, umso mehr werden wir fündig. (235, [3])
In diesem Sinne dürfte ebenso die Formel comme on sait / wie man weiß (241, [16]) einzuordnen sein. Verglichen mit den Sachlichkeitserwartungen dürfte außerdem die hohe Zahl an relativierenden Bewertungen überraschen; Faktizitätseinschränkungen schwanken zwischen großem Zweifel und leichter Unsicherheit:
Je suis porté à croire, au contraire, que ... / Im Gegensatz dazu glaube ich sogar, dass ... (241, [16])
Ici encore il est permis de supposer que ... / Hier ist es wiederum erlaubt anzunehmen ... (243, [21])
D’après les recherches les plus récentes, il semble que l’optatif ait été ... / Nach neuesten Forschungen scheint es so zu sein, dass der Optativ ... (238, [11])
On peut donc dire que ... / Man kann also sagen, dass ... (242, [20])
On doit comprendre maintenant pourquoi ... / Man versteht jetzt, warum ... (242, [18])
Là est sans nul doute la signification première de l’optatif. / Hierin liegt zweifellos die erste Bedeutung des Optativs. (238, [10])
Zu nennen wäre in dem Zusammenhang noch der epistemische Gebrauch von Modalverben, z.B. wenn das frz. Verb devoir verwendet wird, um eine Stellungnahme des Autors zur gegebenen Proposition auszudrücken:
Les linguistes qui ... devraient s’en douter / Sprachwissenschaftler, die ..., sollten eigentlich damit rechnen (243, [21])
Bereits die wenigen Beispiele verdeutlichen, wie wenig ein wissenschaftlicher Text nur aus Assertionen zu bestehen braucht. Gerade weil Sachverhalte längst nicht immer zweifelsfrei zu beurteilen sind und nicht selten abweichenden Interpretationen unterliegen, spielen vorläufige Bewertungen und subjektive Einschätzungen zwangsläufig eine wichtige Rolle. Bisweilen kommen dabei auch emotionale Einstellungen zum Ausdruck:
Cependant nous ne sommes nullement choqué de ce mélange / Durch diese Vermengung sind wir jedoch keineswegs schockiert (235, [3])
Si [...], les choses deviennent encore plus frappantes / Wenn [...], erscheinen die Dinge noch frappierender (242, [19])
Aus einer solchen Perspektive wird auch das eigene Vorgehen betrachtet:
je me contente de rappeler ... / ich erinnere nur an ... (235, [3])
S’il m’arrive de formuler un syllogisme / Wenn ich einmal einen Syllogismus formuliere (237, [8])
Ein eher zwiespältiges Verfahren stellt der sogenannte „Subjektschub“ dar. Gemeint sind Fälle einer Subjektvertauschung, wenn z.B. ein Instrumentativ als Subjekt an die Agens-Stelle tritt (von Polenz 1981: 100f):
Avec l’optatif [= Instrumentativ] le locuteur [= Agens] exprime l’idée d’un désir. → L’optatif [= Agens?] exprime l’idée d’un désir. )
Zwiespältig ist der Subjektschub insofern, als einerseits das eigentliche Agens, der Sprecher, wegfällt und man von einer Deagentivierung sprechen könnte, andererseits aber ein sprachliches Mittel, der Optativ, in die Subjekt-Position „geschoben“ wird und somit für die Personifizierung eines unbelebten Phänomens sorgt. Insgesamt ist der Rückgriff auf dieses Verfahren äußerst beliebt, nicht nur bei Bréal, nicht nur in der Sprachwissenschaft und ebenso im Deutschen; von daher dürfte ein personifizierender Effekt in vielen Fällen kaum noch wahrgenommen werden. Aus dem Essai de sémantique nur folgende Beispiele:
Elles [= les conjonctions] font appel à ... / Sie appellieren an ... (237, [8])
Mais nos langues ne s’en tiennent pas là. / Aber unsere Sprachen bleiben hier nicht stehen. (237, [9])
En réalité le français a si peu renoncé à cet élément subjectif qu’il a trouvé, pour l’exprimer, des formes nouvelles / In Wirklichkeit aber hat das Französische auf das subjektive Element so wenig verzichtet, dass es sogar neue Formen gefunden hat, um es ausdrücken. (240, [14])
Eine spezielle Form der Leserorientierung zeigt sich nicht zuletzt auf der Ebene der Textorganisation: Der Autor signalisiert mit verschiedenen Ausdrucksformen sein Bemühen um Transparenz und Anschaulichkeit. Dies betrifft nicht allein, wie schon skizziert, die Kapiteleinleitung, sondern setzt sich ebenfalls in den folgenden Abschnitten fort:
je veux parler de la première personne du singulier de l’impératif / ich spreche von der ersten Person Singular des Imperativs (241, [17])
Si des modes et des temps nous passons aux personnes du verbe ... / Wenn wir jetzt von den Modi(6) und den Tempora zu den Personalformen des Verbs übergehen ... (242, [19])
Il nous reste à parler du mode où l’élément subjectif se montre le plus fortement : l’impératif. / Wir müssen noch über einen Modus sprechen, wo das subjektive Element am deutlichsten zum Ausdruck kommt: den Imperativ. (240, [16])
Je nach Zusammenhang verdeutlicht der Autor, ob er ein neues Unterthema ansprechen will (je veux parler de), ob gerade ein inhaltlicher Übergang erfolgt (si nous passons à) oder noch ein verbliebener „Rest“ abzuarbeiten ist (il nous reste à parler de). Charakteristisch sind wiederum die Ich-Form und der leser-inklusive Pronomengebrauch.
Die bisher anhand eines Kapitels beschriebenen sprachlichen Verfahren sind symptomatisch für das gesamte Buch. Von den eingangs referierten Stilnormen der Wissenschaftssprache hat sich Bréal zugunsten einer adressatengerechten Diktion also recht weit entfernt. Er gehört offensichtlich zu den Autoren, die pragmatische Faktoren der Kommunikation nicht nur untersuchen, sondern diese auch in der eigenen Schreibpraxis zur Geltung bringen.
2 Sprach- und Äußerungsfunktionen
In den folgenden Abschnitten geht es nun verstärkt um inhaltliche Aspekte in den Ausführungen Bréals, u.a. auch um die Frage, ob oder in welcher Weise der Autor etwas zur Entwicklung einer linguistischen Pragmatik beigetragen hat. Zuvor sei jedoch noch ein kurzer historischer Rückblick eingefügt.
In der Literatur herrscht weitgehende Einigkeit bezüglich der wichtigen Impulsgebung, die von der Sprachtheorie Karls Bühlers (1934) ausgegangen ist. Insbesondere die Unterscheidung dreier zentraler Sprachfunktionen, integriert in dem bekannten Organon-Modell, gilt als wichtiger Meilenstein auf dem Weg zu einer pragmatischen Sprachauffassung. Zu jedem kommunikativen Austausch gehören mindestens drei fundamentale Faktoren: ein Sprecher, ein Hörer, die Dinge – so bereits die Angaben in der Axiomatik der Sprachwissenschaften. Die „Dinge“ sind die „Gegenstände und Sachverhalte“, über die gesprochen wird. Als verbindende Element fungiert das sprachliche Zeichen (Abb. 1). Den drei Faktoren entsprechen jeweils bestimmte „semantische Funktionen“, denen wiederum verschiedene „Leistungen“ zuzuordnen sind; damit ergeben sich folgende Relationen:
Sprecher → Symptom → Ausdruck
Hörer → Signal → Appell
Dinge → Symbol → Darstellung
Folgt man den Erläuterungen Bühlers, erscheint es keineswegs abwegig, im Organon-Modell mehr zu sehen als nur ein Zeichenmodell. Bereits Wunderlich (1969: 56) betont, es gehe hier eigentlich um „Funktionen von Äußerungen“. Man kann noch einen Schritt weiter gehen und die Angaben Ausdruck, Appell, Darstellung als Bezeichnungen für sprachliche Handlungen verstehen – dies auch deshalb, weil Bühler (1934: 31) in dem Kontext (und auch an anderen Stellen) selbst von „Sprechhandlungen“ spricht und als deren Ziel das „Benehmen des Empfängers“ angibt.
Abb. 1: Organon-Modell (Bühler 1934: 28)
Es schmälert das Verdienstvolle und die Bedeutsamkeit der Gedanken Bühlers nicht, wenn auf andere Autoren verwiesen wird, deren Arbeiten man als anbahnend oder sogar vorbereitend ansehen kann. So hat es bereits im 19. Jahrhundert diverse Forschungen gegeben, die vorpragmatische Ansätze erkennen lassen; teilweise mögen sie heute vergessen sein, andere dagegen sind nach wie vor stärker im Gespräch. Erwähnt seien nur die Namen Hermann Wunderlich, Philipp Wegener oder auch Wilhelm von Humboldt (Behr 1987, Nerlich & Clarke 1996). In diese Reihe gehört nun ebenfalls Michel Bréal, bei Bühler (1934: 322) immerhin zu den „umsichtigen Denkern“ gezählt, wenn auch nur aus zweiter Hand. Zur Begründung der Nennung Bréals in einem solchen wissenschaftshistorischen Zusammenhang sei zunächst nur eine Aussage zitiert:
La parole n’a pas été faite pour la description, pour le récit, pour les considérations désintéressées. Exprimer un désir, intimer un ordre, marquer une prise de possession sur les personnes ou sur les choses – ces emplois du langage ont été les premiers. (Bréal 1904: 243, [23])
Für Bréal ist der Sprachgebrauch grundsätzlich in kommunikative Prozesse eingebunden, von daher kann man auch von einer grundsätzlichen Handlungsorientierung sprechen. Die Dichotomie von langue und parole ist im Essai de sémantique kein Thema. Das Zitat deutet an, in welchem Maße Vorstellungen präsent sind, die den später von Bühler postulierten Äußerungsfunktionen entsprechen. Neben der Informationsvermittlung gehe es in der Kommunikation ebenso um den Ausdruck von Einstellungen, Gefühlen, Zweifeln und um das Einwirken auf den Adressaten, indem etwa Wünsche oder Befehle geäußert werden. Diese Sprachverwendungsweisen seien in der Sprachentwicklung sogar die primären. Manche Ausführungen Bréals erinnern in der Tat an Abschnitte aus sprechakt- oder handlungstheoretisch orientierten Arbeiten der 1970er Jahre, obgleich von illokutionären Akten natürlich noch nicht die Rede ist. Das folgende Zitat legt zudem die Vermutung nahe, Bréal habe auch bereits eine klare Vorstellung von dem gehabt, was aus heutiger Sicht unter perlokutionären Effekten verstanden wird:
Mais le langage ne s’adresse pas seulement à la raison : il veut émouvoir, il veut persuader, il veut plaire. (Bréal 1904: 288)
In Ergänzung zu den Erläuterungen Bréals könnte man die angesprochenen Aspekte modellhaft wie in Abb. 2 zusammenfassen:
Abb. 2: Kommunikative Aktivität nach Bréal
Gewisse Parallelen zum Organon-Modell Bühlers sind offensichtlich. Die vergleichsweise geringe Resonanz der wegweisenden Konzeption Bréals ist möglicherweise einem einfachen Umstand geschuldet: Der Autor hat darauf verzichtet, seine Vorstellungen in kohärenter Weise zu präsentieren und seine Einsichten stattdessen auf verschiedene Kapitel des Essai de sémantique verteilt dargelegt; schematische Darstellungen, wie sie z.B. de Saussure und Bühler zur Veranschaulichung einsetzen, fehlen außerdem ganz.
3 Subjektive Elemente
Bréal beschränkt sich in seinem Kapitel L’élément subjectif nicht auf allgemeine Anregungen in Richtung einer linguistischen Pragmatik – ganz im Gegenteil. Wir haben es mit einer ganzen Reihe präziser Beobachtungen zu tun, die nach wie vor von großem Interesse sind (Delesalle 1987). Aus dem Spektrum sprachlicher Mittel und Verfahren, die Subjektives im Sprachgebrauch signalisieren, seien nur drei Beispiele herausgegriffen: Adverbien, Modi, Para- und Extraverbales (Nerlich 2007, Lüger 2012).
In einer Äußerung wie Le déraillement n’a causé heureusement aucun accident de personne (Bréal 1904: 235, [3]) liege zwar eine Sachverhaltsmitteilung vor, doch drücke das eingeschobene Adverb heureusement eine subjektive Einschätzung des Sprechers zum mitgeteilten Ereignis aus. Bréal betrachtet daher Ausdrücke wie sans doute, peut-être, probablement, sûrement als Subjektivitätsmarkierungen, mit denen Sprecher ihre Intentionen nuancieren können. Anders formuliert: Wir haben es hier mit bewertenden Sprechereinstellungen zu tun, die nicht im Zentrum des Satzinhalts stehen, sondern gleichsam „nur nebenbei geäußert werden“ – so Peter von Polenz (1985: 219) in seiner Satzsemantik. In ähnlicher Weise lassen sich auch – und von Bréal ebenfalls erwähnt (1904: 235, [3]) – Partikeln zur Abtönung von Aussagen verwenden. Das Aktuelle solcher Beobachtungen Bréals hebt ausdrücklich Nerlich hervor:
Adverbien und modale Abtönungspartikel pfropfen dem propositionellen Gehalt des Satzes eine zusätzliche subjektive, sprecherbezogene Markierung auf und verleihen ihm eine bestimmte Modalität oder eine illokutionäre Tendenz, um den Terminus der zeitgenössichen Pragmalinguistik zu bemühen. (2007: 166f)
Bei den Verben sind es vor allem die Modi, die Subjektives, ”des dispositions de l’âme”, anzeigen (Bréal 1904: 238, [10]). So diene bekanntlich der französische subjonctif vielfach dazu, eine Mitteilung mit der Sprechereinstellung des Ungewissen, Bezweifelten, Befürchteten oder Gewollten zu verbinden (Dieu vous entende ! Puissiez-vous réussir !). Ähnliches gelte im Griechischen für den Optativ (τεθναίης ‘wenn ich doch sterben könnte’). Eine modale Bedeutung komme auch einigen Tempora zu. Das Futur etwa könne, wie der subjonctif, ebenso als Zeichen des Ungewissen, des Gewünschten oder Nichtgewünschten verstanden werden:
Annoncer ce qui sera, ce n’est pas autre chose, au fond, dans la plupart des affaires humaines, qu’exprimer nos vœux ou nos doutes et nos craintes. (Bréal 1904: 239, [12])
Auf weitere, für das Französische wichtige modale Verwendungsweisen des Futurs geht Bréal hier nicht ein. Zu nennen wäre etwa das sogenannte futur injonctif, mit dem sich u.a. moralisch gebotene Aufforderungen formulieren lassen (Tu honoreras ton père et ta mère). Oder man denke an die höfliche Abschwächung einer Bitte oder Frage: Je te demanderai de m’aider. / Vous me permettrez une dernière remarque ? (Dethloff & Wagner 2014: 269f)
Als Modus der Willensbekundung fungiere in erster Linie der Imperativ; in ihm zeige sich das subjektive Element am deutlichsten In dieser grammatischen Form werde die Vorstellung einer bestimmten Handlung – gemeint ist die intendierte Hörerreaktion – kombiniert mit dem Wollen eines Sprechers. Bréal macht allerdings sogleich auf eine wichtige Einschränkung aufmerksam: Der direkte, grammatisch explizite Aufforderungscharakter trete in der Kommunikation längst nicht immer in Erscheinung, zum Ausdruck des Sprecherwillens werde dagegen meist auf indirekte Formen zurückgegriffen. Eine spezielle Rolle komme dabei nonverbalen Elementen wie der Intonation, der Mimik oder der Gestik zu:
C’est le ton de la voix, c’est l’aspect de la physionomie, c’est l’attitude du corps qui sont chargés de l’exprimer. On ne peut faire abstraction de ces éléments qui, pour n’être pas notés par l’écriture, n’en sont pas moins partie essentielle du langage. (Bréal 1904: 240f, [16])
Aus heutiger Sicht mögen diese Aussagen erstaunen, zeigen sie doch ein sehr weitblickendes Verständnis von verbaler Mündlichkeit: Sprachliche Kommunikation wird nicht nur als einfache Sender-Empfänger-Konstellation gesehen und auch nicht einer linguistisch sekundären Rest-Kategorie wie der parole zugeordnet, sondern aus einer Perspektive betrachtet, die gerade das pragmatische Eingebundensein nicht leugnet. Sprechen ist für Bréal immer ein interaktiver Austausch zwischen den Beteiligten, „le langage est une œuvre en collaboration, où l’auditeur entre à part égale”, heißt es an anderer Stelle (1904: 266). Kommunikative Aktivitäten werden zudem verstanden als komplexe Prozesse, die – modern ausgedrückt – multikodal oder multimodal ablaufen; sprachwissenschaftliche Beschreibungen dürften also von para- und extraverbalen Faktoren nicht abstrahieren.
4 Fazit
Diese Einsichten mehrfach auf den Punkt gebracht zu haben, ist ein unbestreitbares Verdienst Bréals. Insofern kann man der von De Palo vertretenen Auffassung, Bréal habe mit seinen „subjektiven Elementen“ die Analyse der pragmatischen Dimension von Sprache vorangebracht (2001: 175), nur zustimmen. Ausdrücklich widersprochen sei dagegen der Einschätzung von Aarsleff, der in Bréal vor allem den Wegbereiter für den großen Erfolg des Cours de linguistique générale von Ferdinand de Saussure sieht:
Bréal was the great innovator who gave French linguistics the distinct and powerful form that by a sort of delayed reaction struck the world in its summa, Saussure’s Cours. (Aarsleff 1982: 37)
Es sind gerade die pragmalinguistischen Vorüberlegungen Bréals, die über die langue-orientierten Gedanken Saussures hinausgehen, auch wenn sie wissenschaftsgeschichtlich seinerzeit mit den vorherrschenden Trends nur wenig vereinbar erscheinen – ein Schicksal, das er mit verschiedenen anderen Autoren teilt. Bezüglich der Rezeption Bréals mag es die eine oder andere Ungereimtheit geben. So berichtet Fournet (2011) von einem Kapitel De la subjectivité dans le langage von Émile Benveniste in dessen Problèmes de linguistique générale (1966). Trotz zahlreicher Parallelen werden die Vorarbeiten Bréals mit keinem Wort erwähnt: “Quite mysteriously Benveniste never mentions Bréal as a potential source of inspiration” (Fournet 2011: 207). Weitere Beispiele ähnlicher Art ließen sich hinzufügen.
Fournet sieht den Fall Benveniste noch in einem größeren Zusammenhang, und zwar in dem nationalistisch aufgeheizten, antideutschen und antisemitischen Klima im Frankreich der III. Republik, insbesondere nach dem Deutsch-französischen Krieg von 1870/1871:
Bréal was born in Germany in a Jewish family. One is left to wonder if this was not too unpalatable in the hypernationalistic and warmongering climat of the IIIrd Republic in France, which trained two generations from 1870 to 1918 into winning back Alsace at all costs and was torn about the Dreyfus Affair. It would seem that it was impossible to refer to Bréal at that time and that this situation has become a kind of involuntarily acquired characteristic among French linguists. (Fournet 2011: 207f)
Dennoch seien zwei Punkte noch einmal betont, denn es müssen nicht nur äußere Umstände sein, die einer breiteren Aufnahme der Ideen Bréals im Wege standen: Zum einen hat sich Bréal nicht vollständig von der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft gelöst, wovon auch verschiedene Abschnitte des hier zugrundegelegten Kapitels zeugen. Zum anderen hat es Bréal – wie bereits oben angedeutet – versäumt, seine Gedanken systematisch und mit einer prägnanten Begrifflichkeit als eine neue semantische oder pragmalinguistische Konzeption vorzustellen. Zumindest diese Aufgabe – nämlich die der marktgerechten Präsentation – haben die Schüler de Saussures 1916 effektiver gelöst.
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Anhang
Für die Übersetzung zeichnen Christine Bergdoll, Gabriele Straßer und Heinz-Helmut Lüger verantwortlich. Basis ist die dritte Auflage des Essai de sémantique aus dem Jahre 1904. Die bei Bréal angegebenen Beispiele sind wie im Original wiedergegeben. Die Abschnitte wurden für die Zwecke dieses Beitrags durchnumeriert.
Kapitel 25
Das subjektive Element
Was man unter dem subjektiven Element zu verstehen hat. – Wie es mit der Rede verknüpft ist. – Das subjektive Element ist der älteste Teil der Sprache.
[1] Wenn es denn stimmt, wie manchmal behauptet, dass die Sprache ein Drama sei, in dem die Wörter die Schauspieler sind und die grammatische Anordnung die Bewegungen der Akteure auf der Bühne wiedergibt, dann müsste man diesen Vergleich zumindest in einem speziellen Punkt korrigieren. Der Impresario mischt sich häufig in das Geschehen auf der Bühne ein, um seine eigenen Gedanken und Gefühle einzubringen – dies allerdings nicht wie Hamlet, der zwar seine Schauspieler unterbricht, aber außerhalb des Stückes bleibt, sondern wie wir es selbst beim Träumen machen, wenn wir zugleich interessierter Zuschauer und Autor der Ereignisse sind. Ich schlage vor, diese Form der Einmischung die subjektive Seite des Sprachgebrauchs zu nennen.
[2] Diese subjektive Seite wird ausgedrückt 1. durch Wörter und Satzglieder, 2. durch grammatische Formen, 3. durch die Struktur unserer Sprachen.
[3] Als Beispiel wähle ich eine ganz gewöhnliche Zeitungsmeldung: „Auf der Strecke Paris – Le Havre ist gestern ein Zug entgleist, was den Verkehr für drei Stunden blockiert hat; glücklicherweise kamen Personen nicht zu Schaden.“ Es ist klar, dass das kursiv gesetzte Wort sich nicht auf den Unfall bezieht, sondern das Gefühl des Erzählers ausdrückt. Durch diese Vermengung sind wir jedoch keineswegs schockiert, weil dies absolut im Einklang steht mit dem normalen Sprachgebrauch.
[3] Eine ganze Reihe von Adverbien, Adjektiven und Satzgliedern, die wir in gleicher Weise einfügen, drücken Überlegungen oder Einschätzungen des Sprechers aus. Ich nenne in erster Linie Ausdrücke, die einen größeren oder geringeren Grad an Gewissheit oder Vertrauen eines Sprechers bezeichnen, wie z.B. sans doute, peut-être, probablement, sûrement usw. Alle Sprachen verfügen über einen Vorrat an Adverbien dieser Art; je weiter wir in die Vergangenheit zurückgehen, umso mehr werden wir fündig. Das Griechische ist damit reich ausgestattet. Ich erinnere nur an die Vielfalt von Partikeln, mit denen Platons Texte übersät sind und die den Zweck haben, die Eindrücke und die Absichten der Gesprächspartner zu nuancieren(2). Man kann sie mit nebenbei gezeigten Gesten oder mit den verständnisvollen Blicken vonseiten eines Hörers vergleichen.
[4] Eine richtige logische Analyse, die den Namen verdient, sollte diese beiden Aspekte sorgfältig auseinanderhalten. Wenn ich über einen Reisenden sage:
„Zu dieser Stunde ist er wahrscheinlich angekommen“, bezieht sich wahrscheinlich nicht auf den Reisenden, sondern auf mich. Die logische Analyse [I], wie man sie in den Schulen praktiziert, sah sich bisweilen durch dieses subjektive Element irritiert; sie berücksichtigte nicht, dass jeder halbwegs lebendige Austausch zu einem Dialog mit dem Leser werden kann. Dies zeigen u.a. Pronomen, die mitten in einer Erzählung auftauchen und mit denen der Erzähler sein Publikum plötzlich einzubeziehen scheint. La Fontaine hatte dafür eine Vorliebe:
Il vous prend sa cognée : il vous tranche la tête. [II]
[5] Man nennt sie „Füllwörter“, und in der Tat gehören sie nicht zur Erzählung selbst. Das schließt jedoch nicht aus, dass sie der ursprünglichen Funktion des Sprachgebrauchs entsprechen.
[6] Da man das subjektive Element nicht berücksichtigt hatte, wurden bestimmte Ausdrücke in den alten Sprachen falsch verstanden. Ein zeitgenössischer, sehr bekannter Sprachwissenschaftler kann nicht glauben, dass das lateinische Adverb oppido der Ablativ eines Adjektivs mit der Bedeutung ‘solide, fest, sicher’ ist(3); er fragt, wie diese Bedeutung sich mit Ausdrücken wie z.B. oppido interii, oppido occidimus vereinbaren lässt. Hier muss man jedoch das subjektive Element in Betracht ziehen. Wir sagen auch: « Je suis assurément perdu » oder auf Deutsch ich bin sicherlich verloren. Das sind Wendungen, in denen sich gewisse Widersprüche ergeben, wenn man sich nur an den reinen Wortlaut hält.
[7] Das Gleiche ist auch mit dem deutschen Adverb fast geschehen, das ursprünglich eine Idee der Festigkeit oder der Gewissheit bezeichnete. Man sagte vaste ruofen ‘laut rufen’, vaste zwîveln ‘stark zweifeln’. – Ich habe lange und fast für ihn gebeten (Luther). – Wenn fast im Sinn von ‘beinahe’ gebraucht wird, dann deswegen, weil es sich auf Wendungen wie ich glaube fast, ich sage fast bezieht. Den gleichen Fall haben wir mit dem Wort ungefähr, das seine eigentliche Bedeutung mit der Ergänzung zu ‘ohne Furcht, mich zu täuschen’ erhält. – Auch im Lateinischen bedeuten die Wörter pæne, ferme ‘beinahe’, obwohl das erstere mit penitus verwandt ist und das letztere eine Dublette von firme ist; aber man muss die Wendungen komplett wiedergeben: pæne opinor, firme credam(4).
[8] Der gesamte Sprachbestand wird permanent von solchen Ausdrücken geprägt. Wenn ich einmal einen Syllogismus formuliere, gehören die Konjunktionen, welche die verschiedenen Glieder der Schlussfolgerung markieren, zum subjektiven Teil [IV]. Sie appellieren an das Verständnis, sie bezeugen damit die Wahrheit und die Verknüpfung der Tatsachen. Sie gehören also nicht zur gleichen Kategorie wie die Ausdrücke, deren Aufgabe darin besteht, die Tatsachen selbst darzustellen.
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[9] Aber unsere Sprachen bleiben hier nicht stehen. Die Verknüpfung der subjektiven und objektiven Elemente ist so subtil, dass ein wichtiger Teil der Grammatik hier seinen Ursprung hat.
[10] Im Verb wird diese Verknüpfung am deutlichsten. Man errät unschwer, dass wir von den Modi sprechen wollen. Die griechischen Grammatiker hatten das richtig gesehen: Ihrer Auffassung nach dienen die Modi dazu, den jeweiligen Zustand der Seele anzuzeigen, διαθέσεις ψυχῆς. In der Tat enthält eine Wendung wie θεοὶ δοῖεν zwei ganz verschiedene Dinge: die Idee einer von den Göttern gewährten Hilfe und die Idee eines vom Sprecher ausgedrückten Wunsches. Diese beiden Ideen sind gewissermaßen ineinander übergegangen, denn dasselbe Wort, das die Handlung der Götter bezeichnet, drückt auch den Wunsch des Sprechers aus. Das einfache Wort bei Homer τεθναίης, „utinam moriaris!“, bringt außer der Idee des Sterbens auch den Wunsch dessen zum Ausdruck, der diese Verwünschung ausspricht. Hierin liegt zweifellos die erste Bedeutung des Optativs.
[11] Aber der Optativ ist nicht der einzige Modus dieser Art. Der Konjunktiv verknüpft ebenfalls die Idee der Handlung mit einem Element, das den διαθέσεις ψυχῆς entnommen ist. Es trifft zu, dass er der Bedeutung des Optativs sehr nahe kommt. Nach neuesten Forschungen scheint es so zu sein, dass in den vedischen Texten der Optativ für bestimmte Verben, der Konjunktiv für andere Verben jeweils der bevorzugte Modus gewesen ist, obwohl es keinen klaren Unterschied zwischen den beiden Modi gab(5). Diese Formenvielfalt zeigt, welch wichtigen Platz der Sprachgebrauch dem subjektiven Element einräumte. Sprachen, die, wie das Griechische, beide Modi beibehielten, haben auch versucht, sie voneinander abzugrenzen. Aber die meisten Sprachen haben, vom Formenreichtum eher belastet, den Optativ und den Konjunktiv miteinander verschmolzen.
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[12] Das lateinische Futur ist dem Konjunktiv und dem Optativ so nahe, dass man sie bei einigen Personenformen in der Konjugation verwechseln kann. Inveniam, experiar sind nach Belieben Futur oder Konjunktiv. Hier zeigt sich ein richtiges Gespür für die Natur der Dinge. Anzukündigen, was sein wird, ist letztlich in der Mehrheit der Fälle nichts anderes, als unsere Wünsche oder unsere Zweifel und Befürchtungen auszudrücken. Es ist verständlich, dass sich früher diese Nuancen verwischt haben. Zahllose Beispiele zeigen, dass es zwischen Futur und Konjunktiv keine genaue Grenze gab. Für den Sprachhistoriker verschwindet so der Unterschied zwischen den Tempora und den Modi. Diejenigen, die heutzutage die außergewöhnliche Idee verbreiten, dass der Optativ erfunden worden sei, um einen Modus der Nichtwirklichkeit zu haben, verleihen damit unseren Vorfahren die gleiche Erfindungsgabe, wie man sie bei den Erfindern der Algebra bewundert. Die Sprache war aber in diesen frühen Zeiten gar nicht zu so hochfliegenden Zielen imstande und verfolgte eher praktische Zwecke.
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[13] Das subjektive Element ist auch in der Grammatik heutiger Sprachen gegenwärtig.
[14] Das Französische bedient sich des Subjonctifs, um einen Wunsch auszudrücken: Dieu vous entende ! – Puissiez-vous réussir ! Einige Logiker haben vorgeschlagen, den Gebrauch des Subjonctifs als Ellipse zu betrachten: « Je désire que Dieu vous entende. – Je souhaite que vous puissiez réussir... » In Wirklichkeit aber hat das Französische auf das subjektive Element so wenig verzichtet, dass es sogar neue Formen gefunden hat, um es ausdrücken. Wenn das Französische eine Handlung mit einem Hintergedanken des Zweifels ausdrücken möchte, verfügt es über Ausdrücke wie Vous seriez d’avis que... Nous serions donc amenés à cette conclusion... Vous pourriez avoir raison... Mit diesen Wendungen drückt das Verb keine Bedingung aus, sondern einen für unsicher gehaltenen Sachverhalt. Das Konditional hat also einige der scharfsinnigsten Möglichkeiten des Subjonctifs und des Optativs übernommen.
[15] Die indirekte Rede ist mit ihren verschiedenen und komplizierten Regeln eine Art Transposition der Handlung in eine andere Ausdrucksweise. Was heute die geschriebene Sprache mit Anführungszeichen erreicht, kennzeichnete die gesprochene Sprache seit jeher mit verschiedenen Verbformen. Konjunktiv und Optativ hatten dort ihren natürlichen Platz, denn ein gewisser Zweifel war zwangsläufig mit der Rede insgesamt verbunden.
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[16] Wir müssen noch über einen Modus sprechen, wo das subjektive Element am deutlichsten zum Ausdruck kommt: den Imperativ. Der Imperativ zeichnet sich dadurch aus, dass er die Idee der Handlung mit der Idee des Sprecherwillens verbindet. Vergeblich würde man bei den meisten Imperativformen nach speziellen Silben suchen, die genau diesen Willen ausdrücken. Es sind der Ton der Stimme, die Art der Physiognomie, die Körperhaltung, die die Aufgabe haben, den Willen des Sprechers zu markieren. Man kann von diesen Elementen nicht einfach abstrahieren, die nicht weniger wesentlich für den Sprachgebrauch sind, nur weil sie in der Schrift nicht festgehalten werden. Wie man weiß, sind einige Imperativformen mit dem Indikativ identisch; das ist aber kein Grund anzunehmen, der Imperativ sei dem Indikativ entlehnt. Im Gegensatz dazu glaube ich sogar, dass der Imperativ dem Indikativ vorausgeht und dass – im Unterschied zu dem, was gelehrt wird – dort, wo die Formen gleich sind, der Indikativ die entlehnende Form ist. Vielleicht sind so kurze Formen wie ἴθι ‘komm!’, δός ‘gib!’, στῆτε ‘halt!’ das Älteste, was es in der Konjugation gibt.
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[17] Wir haben die Verdoppelung der menschlichen Person angedeutet. In der Konjugation des Sanskrit und des Zend gibt es eine grammatische Form, wo diese Verdoppelung offen zutage tritt. Ich spreche von der ersten Person Singular des Imperativs, z.B. bravãni ‘dass ich erflehe’, stavãni ‘dass ich preise’. So merkwürdig uns eine Befehlsform auch erscheinen mag, bei der die sprechende Person sich selbst Befehle erteilt, so sehr stimmt dies jedoch mit der Natur der Sprache überein(7). Diese Form der ersten Person sagt auf kürzere Weise, was in anderen Sprachen mehr oder weniger umständlich ausgedrückt wird. Das Französische verwendet den Plural des Imperativs; die Hirten des Virgil rufen sich in der zweiten Person an:
Insere nunc, Melibœe, piros, pone ordine vites!
[18] Man versteht jetzt, warum es immer so schwer gewesen ist, eine genaue und vollständige Definition des Verbs zu geben. Dies haben wiederum frühere Autoren am besten verstanden. Moderne Autoren definieren das Verb als „Wort, das einen Zustand oder eine Handlung ausdrückt“, und lassen dabei einen großen Teil seines Inhalts weg – nämlich den schwierigsten und charakteristischsten.
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[19] Wenn wir jetzt von den Modi und den Tempora zu den Personalformen des Verbs übergehen, erscheinen die Dinge noch frappierender.
[20] Der sprechende Mensch ist so weit davon entfernt, die Welt als uninteressierter Beobachter zu betrachten, dass dagegen der Teil, den er in der Sprache für sich selbst gemacht hat, ganz und gar disproportioniert ist. Von den drei Personalformen des Verbs hat er eine ausschließlich für sich selbst reserviert (man nennt sie üblicherweise die erste Person). Schon auf diese Weise setzt der Sprecher seine Individualität dem Rest des Universums entgegen. Was die zweite Person betrifft, führt sie uns noch nicht sehr weit von uns weg, denn die zweite Person hat keinen anderen Zweck, als von der ersten angerufen zu werden. Man kann also sagen, dass nur die dritte Person den „objektiven“ Teil der Sprache darstellt.
[21] Hier ist es wiederum erlaubt, das subjektive Element der Sprache als deren ältestes anzunehmen. Sprachwissenschaftler, die versuchten, die Flexionsformen des Verbs zu analysieren, sollten eigentlich damit rechnen: Während die dritte Person sich leicht erklären lässt, bieten die erste und die zweite Person der Etymologie die meisten Schwierigkeiten.
[22] Für die Pronomen können ähnliche Beobachtungen angestellt werden. Ein Pronomen moi genügte nicht: Zusätzlich war ein spezielles Pronomen notwendig, um anzuzeigen, dass das moi an einer gemeinschaftlichen Handlung teilnimmt. Das ist der Sinn des Pronomens nous, das ‘ich und sie’, ‘ich und ihr’ usw. bedeutet. Aber damit nicht genug: In vielen Sprachen war ganz offensichtlich eine Zahl nötig, um anzuzeigen, dass das moi zur Hälfte in einer Handlung zu zweit beteiligt ist. Das ist der Ursprung und der eigentliche Sinn des Duals für die Konjugation.
[23] Man wird nun verstehen, unter welchem Gesichtspunkt der Mensch seine Sprache ausgerichtet hat. Die Sprache wurde nicht für die Beschreibung geschaffen, nicht für die Erzählung, nicht für unparteiische Erörterungen. Einen Wunsch äußern, eine Anordnung aussprechen, eine Inbesitznahme von Personen oder Sachen anzeigen – diese Arten des Sprachgebrauchs sind die ersten gewesen. Für viele Menschen sind das praktisch immer noch die einzigen Funktionen... Wenn wir noch eine oder mehrere Stufen zurückgehen und wenn wir die Ursprünge der menschlichen Sprache in der Sprache der Tiere suchen, stellen wir fest, dass bei ihnen das subjektive Element allein vorherrscht, dass es das einzig Ausgedrückte, das einzig Verstandene ist, dass es die Verstehensfähigkeit und auch die gedanklichen Fähigkeiten erschöpft.
[24] Das subjektive Element ist also nichts Nebensächliches oder Überflüssiges, sondern vielmehr ein wesentlicher Bestandteil der Sprache und wahrscheinlich die ursprüngliche Basis, der alles andere nach und nach hinzugefügt wurde(8).
Anmerkungen der Übersetzer
[I] Unter „logischer Analyse“ ist hier eher eine grammatische Satzanalyse zu verstehen, die nach Satzteilen und deren Funktionen fragt.
[II] Der Vers entstammt der Fabel Le Villageois et le serpent von Jean de La Fontaine, allerdings mit einem sinnentstellenden Druckfehler: Für tête ‘Kopf’ muss es bête ‘Tier’ heißen.
[III] Verwiesen wird auf den Beitrag Bréals: Etymologies latines. In: Mémoires de la Société de linguistique 5 (1889), 432-433.
[IV] Gemeint sind die Konjunktionen or und donc, die im Französischen üblicherweise die Prämissa minor und die Conclusio eines syllogistischen Schlusses einleiten.
[V] Delbrück, B. (1888): Altindische Syntax. Halle: Buchhandlung des Waisenhauses; Whitney, W.D. (1879): Indische Grammatik, umfassend die klassische Sprache und die älteren Dialecte. Übers. von H. Zimmer. Leipzig: Breitkopf u. Härtel (engl. Orig. 1879: A Sanskrit Grammar).
[VI] Alfred Tobler (1835-1899), schweizerischer Sprachwissenschaftler, zusammen mit Erhard Lommatzsch Herausgeber des mehrbändigen Altfranzösischen Wörterbuchs. – Verwiesen wird außerdem auf den Beitrag Bréals: Les subjonctifs latins en -am. In: Mémoires de la Société de linguistique 6 (1890), 408-409.
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(1) Angegeben sind jeweils die Seitenzahlen der 1904 erschienenen dritten Auflage des Essai de sémantique; die eckigen Klammern enthalten die Abschnittsziffern der im Anhang abgedruckten deutschen Übersetzung.
(2) Ἢ, μήν, τοί, πού, ἲσως, δή, τάχα, σχέδον, ἄρα, νύν usw.
(3) Vgl. dazu das griechische ἔμπεδος ‘solide’.
(4) Zu paene vgl. Mem. de la Soc. de ling., V, S. 433 [III].
(5) Delbrück, Altindische Syntax, § 172. Whitney, Indische Grammatik, § 572 [V].
(6) Ούκ ἒσσεται, ούδἐ γένηται. – Οὔ πω ἲδον, οὺδἑ ἲδωμαι. – Εὶ δέ κε μἠ δὠωσιν, ἐγὡ δέ κεν αὺτὀς ἒλωμαι usw. Vgl. Tobler, Übergang zwischen Tempus und Modus, in: Zeitschrift für Völkerpsychologie, II, S. 32. Siehe auch Mem. de la Soc. de ling., VI, 409 [VI].
(7) Man hat sich gefragt, ob diese erste Person mit ni ursprünglich ist oder ob sie eine relativ junge Erwerbung sei. Ihr Vorhandensein im Zend, wo sie im Mediopassiv eine korrespondierende Form mit nē hat, lässt annehmen, dass sie älteren Datums ist. Wir hätten dann hier den Rest einer archaischen Form, die später fast überall außer Gebrauch gekommen ist, weil sie mit nichts mehr verbindbar war.
(8) Siehe weiter unten zum gleichen Thema das Kapitel „Die Anfänge des Verbs“.
Autor:
Prof. Dr. Heinz-Helmut Lüger
Professur für Linguistik und Didaktik des Französischen (bis 2011)
Universität Koblenz-Landau
Campus Landau
E-Mail: heinz-helmut.lueger@t-online.de