Journal of Linguistics and Language Teaching
Volume 13 (2022) Issue 1, 131-134
Zofia Bilut-Homplewicz: Prinzip Perspektivierung. Germanistische und polonistische Textlinguistik – Entwicklungen, Probleme, Desiderata. Teil II: Polonistische Textlinguistik. Berlin: Lang 2021 (= Danziger Beiträge zur Germanistik, Bd. 61) (ISBN 978-3-631-86511-8)
Unter dem Rahmentitel Prinzip Perspektivierung versucht Zofia Bilut-Homplewicz, die Entwicklung der Textlinguistik in Deutschland und in Polen nachzuzeichnen. Entscheidend ist dabei, jeweils den Blickwinkel beider Forschungsräume mit ihren spezifischen wissenschaftlichen Schreibkulturen zu berücksichtigen sowie die unterschiedlichen Entwicklungen, Schwerpunkte und Probleme zu beschreiben. Der erste Band dieses Projekts erschien 2013, behandelte die „Germanistische Textlinguistik“ und wurde ausführlich in dieser Zeitschrift besprochen (Journal of Linguistics and Language Teaching 5 (2014) 1, 119-123). Der zweite Band ist nun ausschließlich der „Polonistischen Textlinguistik“ gewidmet. Das gesamte Projekt ist Teil langjähriger Bemühungen der Verfasserin, den grenzüberschreitenden Wissenschaftstransfer voranzubringen. (1) Hierzu gehört ebenso die zusammen mit Zofia Berdychowska initiierte Buchreihe Studien zur Text- und Diskursforschung, die inzwischen auf 27 Titel angewachsen ist, und die renommierte Fachzeitschrift tekst i dyskurs – Text und Diskurs, seit 2008 in Kooperation mit Waldemar Czachur herausgegeben.
Der hier zu besprechende Band verfolgt das Ziel, an die genannten Aktivitäten des Wissenschaftstransfers anzuknüpfen und nun besonders die in Polen entstandenen Impulse und Fortschritte auf dem Gebiet der Textlinguistik einem germanophonen Leserkreis überblicksartig zugänglich zu machen:
Das Ziel dieser Arbeit ist es […], nicht die Forschungsfragen im Einzelnen darzustellen und zu diskutieren, sondern Meilensteine in der Entwicklung der polonistischen Textlinguistik zu markieren sowie dem deutschsprachigen Leser ihre wesentlichen Aspekte deutlich zu machen. Dies scheint deshalb wichtig zu sein, weil polonistische Arbeiten wegen der Sprachbarriere lediglich dank Übersetzungen dem deutschsprachigen Leser zugänglich gemacht werden und deshalb nur in geringem Maße bekannt sind, dies aber ohne Zweifel wegen der Wichtigkeit ihrer Erkenntnisse, aber auch wegen ihrer Spezifik verdienen. (8f)
Ein solches Anliegen leuchtet ohne Einschränkung ein, wenn man an die nach wie vor bestehende Ungleichheit im wissenschaftlichen Austausch denkt: Text- oder diskurslinguistische Arbeiten aus deutschsprachigen Ländern werden in Polen häufiger rezipiert als polnische Arbeiten z.B. in Deutschland. Ihre folgende Darstellung gliedert die Verfasserin in sechs Abschnitte:
Entwicklungen der polonistischen Textlinguistik
Ansätze und Positionen
Textsortenforschung – zwischen Literaturwissenschaft und Linguistik
Textsortenanalysen konkret
Textlinguistik als Disziplin in der aktuellen Sprachforschung
Polonistik und Germanistik im Dialog – Publikationen, Projekte, Initiativen
Einen allgemeinen und historisch orientierten Überblick liefert das erste Kapitel (15-38). Es zeichnet die polonistische Textforschung aus, von Beginn an eine pragmatisch orientierte Perspektive eingenommen zu haben – dies verbunden mit einer holistischen Textauffassung: Das heißt, die semiotische Komplexität war von vornherein mit im Blick, was man durchaus als erste Andeutung dessen sehen kann, was aus heutiger Sicht unter multimodalen oder multikodalen Kommunikaten verstanden wird. Insofern überrascht es auch wenig, wenn die Textforschung anfänglich „im Grenzgebiet zwischen der Stilistik, der Textsortenforschung, der Literaturtheorie und der Linguistik angesiedelt“ war (18) und von daher ein wichtiges Bindeglied zwischen Literaturwissenschaftlern und Linguisten bildete. Eine wegweisende Publikation stellte in der Anfangsphase die 1971 erschienene und von Maria Renata Mayenowa herausgegebene Schrift O spójności tekstu (,Zur Textkohärenz’) dar. Wegen der skizzierten wissenschaftsgeschichtlichen Verankerung haben sich für die polonistische Textlinguistik insgesamt andere Traditionslinien ergeben, als dies auf deutscher Seite der Fall war; verschiedene Ansätze (wie z.B. die Sprechakttheorie) wurden weniger stark rezipiert, und auch das Konzept der Transphrastik spielte in der Polonistik keine so bedeutende Rolle wie in zahlreichen Arbeiten deutscher Autoren (2).
Das zweite Kapitel „Ansätze und Positionen“ (39-70) beschäftigt sich mit der resümierenden Darstellung einer Auswahl polnischsprachiger Arbeiten zu verschiedenen Fragen der Textlinguistik. Den Auftakt bilden drei wichtige Monographien, die zwischen 2002 und 2009 erschienen sind, die jeweils ein breites Spektrum textwissenschaftlicher Aspekte (u.a. Typologie von Gattungen und Textsorten, Textualitätskriterien, Textstrukturierung, Problematik des Textzusammenhangs) erörtern und überhaupt eine große Vielfalt an Forschungsansätzen und Analysemethoden dokumentieren. In einem weiteren Abschnitt kommen zahlreiche Aufsatz-Publikationen zur Sprache, die ebenfalls von einer großen thematischen Bandbreite und einer beeindruckenden Differenziertheit zeugen. Gerade für ein deutschsprachiges Publikum, das vor allem aus sprachlichen Gründen solche Publikationen nicht direkt rezipieren kann, entsteht hier das Bild einer modernen, hochentwickelten linguistischen Teildisziplin – ein Bild, das nachdenklich stimmt und viele mit großer Entdeckerpose präsentierte Ausführungen relativieren sollte. Ganz offensichtlich hat die Sprachbarriere hier die Würdigung und sogar die Kenntnisnahme bedeutender Fortschritte bislang gründlich verhindert; um diese Feststellung eines defizitären deutsch-polnischen Wissenschaftstransfers kommt man angesichts solcher Darlegungen nicht herum. Natürlich gibt es Ausnahmen: So hat beispielsweise ein Standardwerk der polnischen Textforschung in den letzten Jahren eine Übersetzung ins Deutsche erfahren: Witosz (2015) – ein Ausgleich für die vorhandenen Defizite ist das allerdings nicht.
In der Überschrift des dritten Kapitels „Textsortenforschung – zwischen Literaturwissenschaft und Linguistik“ (71-97) kommt wiederum die spezifisch polonistische Entwicklungstendenz zum Ausdruck: Als Folge der engen Verbindung mit Literaturwissenschaft und Stilistik gibt es keine klare Trennung zwischen der Gattungs- und der Textsortenforschung. Symptomatisch ist in dem Zusammenhang der polnische Begriff gatunek (mowy), der sowohl für ,Textgattung‘ als auch für ,Textsorte‘ verwendet wird; hieran wird deutlich, wie „unterschiedliche Entwicklungen der Disziplin in beiden Forschungsräumen ihre Widerspiegelung in terminologischen Unterschieden finden“ (84). Der Analyse von Textsorten kommt also in der Polonistik eher eine interdisziplinäre Rolle zu als in deutschen Arbeiten.
Welche Konsequenzen sich im einzelnen aus dem Gesagten ergeben, ist Gegenstand des Kapitels „Textsortenanalysen konkret“ (99-123). Anhand ausgewählter Autoren skizziert die Verfasserin, welche Vorgehensweisen und welche Schwerpunkte die polonistische Textsortenforschung bestimmen bzw. bestimmt haben. Kaum überraschen dürfte dabei die Feststellung, bei der Erfassung von Textsorten werde „kein genuin linguistisch geprägtes Herangehen präferiert“ (101) – die Einbettung in literatur- und kulturwissenschaftliche Kontexte begünstigt interdisziplinäre Brücken, die über die Linguistik hinausgehen. Aus der Leserperspektive ist eines sehr zu begrüßen: Die Betrachtung polnischer Schriften zur Textlinguistik steht zwar im Vordergrund, aber die Verfasserin richtet den Blick immer auch auf Vergleiche mit deutschen Ansätzen; neben einer Reihe unterschiedlicher Ausgangspunkte gibt es nicht wenige Parallelen: die prototypische Textsortenkonzeption, eine Tendenz zur Hybridisierung, die Nähe zur Medienlinguistik und das Prinzip der Textvernetzung).
Im fünften Kapitel „Textlinguistik als Disziplin in der aktuellen Sprachforschung“ (125-140) geht es nochmals um Fragen der Standortbestimmung innerhalb einer pragmatisch orientierten Sprachwissenschaft. Ganz allgemein habe die Bedeutung von Inter- und Transdisziplinarität für textlinguistisches Arbeiten zugenommen, insbesondere sei die Textlinguistik eine wichtige Grundlage für die Diskursforschung und die Medienlinguistik. Dies schließe unterschiedliche Entwicklungen nicht aus: So gebe es auf deutscher Seite z.B. eine stärkere Diversifizierung diskurslinguistischer Forschungsrichtungen; in polonistischen Arbeiten habe man dagegen sehr viel früher den Text als komplexes, multimodales Zeichen betrachtet und damit die Textlinguistik gerade als Anknüpfungspunkt für medienlinguistische Fragestellungen gesehen. Insgesamt komme der Textlinguistik eine Rolle als „Querschnittsdisziplin“ zu, von der aus sich Einflüsse auf verschiedene linguistische Ansätze und Entwicklungen feststellen ließen.
In ihrem abschließenden Kapitel „Polonistik und Germanistik im Dialog – Publikationen, Projekte, Initiativen“ (141-152) diskutiert die Verfasserin Möglichkeiten und Probleme des deutsch-polnischen Wissenschaftstransfers. Eine wichtige Aufgabe falle hier speziell polnischen Germanisten zu: In polnischsprachigen Publikationen könnten sie Nichtgermanisten über den jeweiligen Forschungsstand informieren und mit Arbeiten in deutscher Sprache ließen sich Ergebnisse der polonistischen Forschung in deutschsprachigen Ländern bekannt machen. Eine weitere Transfermöglichkeit ergebe sich, wie bereits erwähnt, anhand von Übersetzungen aus dem Polnischen (142). Nicht zu vergessen seien schließlich bestimmte grenzüberschreitende Aktivitäten, etwa die Organisation internationaler Tagungen, die Herausgabe gemeinsamer Sammelbände oder die Initiierung deutsch-polnischer Projekte (3). Als positives Fazit könne man, so die Verfasserin, eine „zunehmende Sensibilisierung für den jeweils anderen Forschungsraum“ festhalten (151).
Insbesondere für deutsche Leser bieten die Ausführungen von Zofia Bilut-Homplewicz viele neue und interessante Einblicke in die Entwicklung der Textlinguistik auf polnischer Seite; mit der ausführlichen Kommentierung verschiedener wissenschaftlicher Arbeiten werden alternative Zugänge zur Äußerungseinheit Text oder zum multikodalen Kommunikat veranschaulicht. Insofern erfüllt das Buch – zusammen mit dem bereits 2013 erschienenen Teil I – mit Blick auf den deutsch-polnischen Wissenschaftsaustausch eine wichtige Brückenfunktion. Da sich die Verfasserin auf beiden Seiten dieser Brücke bestens auskennt, bietet die Lektüre nicht nur viele neue Einsichten in aktuelle Entwicklungen, sondern letztlich auch einen kompetenten Überblick über die Einbettung, die spezifischen Schwerpunkte und Traditionslinien der Textlinguistik in Polen und in Deutschland. Gleichzeitig ist das Buch ein nachdrückliches Plädoyer für den weiteren Ausbau des wissenschaftlichen Austausches. Ausdrücklich zuzustimmen ist Zofia Bilut-Homplewicz hinsichtlich ihrer Forderung, mit Blick auf das Fremdsprachenlernen in Schule und Hochschule nicht ausschließlich das Englische zu favorisieren, sondern generell für eine stärkere Diversifizierung zu sorgen; nur so sei langfristig ein halbwegs symmetrischer Transfer möglich – eine Lösung, von der man gegenwärtig noch weit entfernt sei. Trotz verschiedener Tagungen, gelegentlicher Übersetzungen vom Polnischen ins Deutsche und trotz der Bemühungen einzelner Wissenschaftler müsse man sich aktuell mit einer eher bescheidenen Zielsetzung begnügen:
Man kann nur der Hoffnung Ausdruck geben, dass die deutsche germanistische Forschung mit der Zeit das Interesse an den Arbeiten des polonistischen Forschungsraums gewinnen wird. (140)
Dem ist wohl nichts hinzuzufügen.
Bibliographie
Bilut-Homplewicz, Zofia (2009): Sind Diskurs und dyskurs terminologische Tautonyme? Zu Unterschieden im Verstehen der Termini in der deutschen und polnischen Linguistik. In: Henn-Memmesheimer, B. & F. Joachim (Hrsg.): Die Ordnung des Standard und die Differenzierung der Diskurse. Akten des 41. Linguistischen Kolloquiums in Mannheim 2006. Frankfurt/Main u.a.: Lang, 49-59.
Bilut-Homplewicz, Zofia (2011): Zwei verschiedene Welten? Ausgewählte germanistische und polonistische Monographien zur Textlinguistik. Ein interlinguistischer Vergleich. In: Schäfer, Patrick & Christine Schowalter (Hrsg.): In mediam linguam. Mediensprache – Redewendungen – Sprachvermittlung. Landau: VEP, 429-439.
Czachur, Waldemar (2020): Der polonistische Weg zur Diskursforschung. In: Buk, A., A. Hanus, A. Mac, D. Miller, M. Smykała & I. Szwed (Hrsg.): Tekst – Dyskurs – Komunikacja / Text – Diskurs – Kommunikation. Rzeszów: W.U.R., 333-343.
Lüger, Heinz-Helmut (2020): Text- und Diskursstrukturen auf der Spur. In: Buk, A., A. Hanus, A. Mac, D. Miller, M. Smykała & I. Szwed (Hrsg.): Tekst – Dyskurs – Komunikacja / Text – Diskurs – Kommunikation. Rzeszów: W.U.R., 41-50.
Mayenowa, Maria Renata (Hrsg.) (1971): O spójności tekstu. Wrocław u.a.: Ossolineum.
Witosz, Bożena (2005 / 2015): Grundlagen der Textsortenlinguistik. Übersetzt aus dem Polnischen von Anna Hanus und Iwona Szwed. Frankfurt/Main: Lang.
Rezensent:
Prof. Dr. Heinz-Helmut Lüger
Zeppelinstraße 45
D-76887 Bad Bergzabern
E-Mail: heinz-helmut.lueger@t-online.de
________________________
(1) Vgl. diesbezüglich auch Bilut-Homplewicz (2009), (2011) sowie die Ausführungen bei Czachur (2020) und Lüger (2020).
(2) „Eine solche Monographie wie Pronomina und Textkonstitution von Roland Harweg (1968) wäre im polonistischen Forschungsraum nicht denkbar“, so die klare Aussage der Verfasserin (30).
(3) Als langjährige Leiterin der „Forschungs- und Bildungsstelle und des Wissenstransfers Text – Diskurs – Kommunikation“ an der Universität Rzeszów kann die Verfasserin,. diesbezüglich auf zahlreiche Veranstaltungen und Veröffentlichungen verweisen.