Volume 5 (2014) Issue1
Erzsébet Drahota-Szabó (2013): Realien – Intertextualität – Übersetzung.
Landau: Verlag Empirische Pädagogik. 288 Seiten (= Beiträge zur
Fremdsprachenvermittlung, Sonderheft 19). (ISBN 978-3-941320-97-0)
Texte
– insbesondere literarische Texte – können Wörter bzw.
Ausdrücke enthalten, die für den beschriebenen Kulturkreis einen
besonderen Mehrwert aufweisen bzw. die in anderen Kulturkreisen gar
nicht bekannt sind. Es sind Wörter, die mit der Kultur des
jeweiligen Landes eng verbunden sind (z.B. Bezeichnungen für
Trachten, Speisen, Institutionen) und deren Übertragung in eine
andere Sprache deshalb für den Übersetzer eine große
Herausforderung darstellt.
In
der Translationswissenschaft sind die Fragen zu den
Übersetzungsmöglichkeiten dieser kulturspezifischen Ausdrücke (=
Realien) ein aktuelles und oft diskutiertes Thema. Die vorliegende
Monographie hat das Ziel, zu dieser Diskussion beizutragen: Sie zeigt
am Sprachenpaar Ungarisch – Deutsch mit Beispielen aus
Übersetzungen zeitgenössischer literarischer Texte, welche
Möglichkeiten dem Übersetzer bei der Übertragung
kulturspezifischer Ausdrücke zur Verfügung stehen und welche
Überlegungen dabei helfen können, um die für den jeweiligen Text
beste Übersetzungsvariante zu finden.
Die
ersten Kapitel schaffen dabei den theoretischen Rahmen für die
exemplarischen Untersuchungen. Kapitel I („Theoretischer
Hintergrund“, 15-50) definiert zunächst den Forschungsgegenstand
des Buches, die Realien. Die Autorin vertritt die Ansicht, dass
Realien möglichst breit aufgefasst werden sollen:
Realien
sind solche sprachlichen Zeichen und Zeichengruppen, die in einer
bestimmten Epoche für eine bestimmte Gruppe der Zeichenbenutzer –
über die Denotation der Zeichen hinaus – einen Zusatzwert, eine
Konnotation aufweisen, d.h. in den Mitgliedern der Gruppe – die
auch eine ganz Nation sein kann – weitgehend identische bzw.
ähnliche Assoziationen hervorrufen können (24).
Realien
sind natürlicherweise ein Bestandteil (und auch ein „Ergebnis“)
der Kultur bzw. der kulturellen Unterschiede, deshalb werden
Kulturbegriffe und Kulturdefinitionen – auch in ihrer Relation zu
den Realien – diskutiert und die Wechselbeziehungen zwischen
Realien, Intertextualität und Kultur erörtert. Kultur kann dabei
als Makrotext aufgefasst werden, und Realien fungieren als Elemente
der Intertextualität.
Kapitel
II („Realien und Übersetzung“, 51-91) nimmt die
übersetzungsrelevanten Eigenschaften der Realien genauer unter die
Lupe. Dabei wird der Frage der Äquivalenz besonderes Augenmerk
geschenkt: Neben verschiedenen Äquivalenz-Theorien werden
Zusammenhänge der Äquivalenz, Denotation und Konnotation
diskutiert. Die interdisziplinäre Betrachtungsweise des Buches kommt
auch in diesem Kapitel in überzeugender Weise zum Ausdruck: Das
mentale Lexikon (das „Wörterbuch im Kopf“) wird in die
Untersuchungen eingebunden, und die Verfasserin zeigt, wie die
mentale Organisationsstruktur zum besseren Verständnis der
Übersetzungsprozesse beitragen kann. Das Kapitel schließt mit zwei
Textbeispielen, die die Verbindungen zwischen den vorgestellten
Äquivalenzarten veranschaulichen.
In
Kapitel III („Übersetzungsverfahren“, 93-167) werden die
Verfahren vorgestellt, die bei der Übersetzung von Realien
eingesetzt werden können. Der Übersetzer kann dabei zwischen zwei
grundsätzlichen
Herangehensweisen wählen:
zwischen der verfremdenden und der domestizierenden Übersetzung.
Zwischen diesen zwei Polen sind zahlreiche Verfahren anzusiedeln:
Übernahme, Äquivalenten-Übersetzung, wörtliche Übersetzung,
annähernde Übersetzung (darunter: Generalisierung, Konkretisierung,
synonymische Übersetzung), beschreibende Übersetzung, Explikation,
Adaptation, Nachdichtung und Auslassung. Im Rahmen dieses Kapitels
wird jedes dieser Verfahren detailliert beschrieben und mit
zahlreichen Beispielen veranschaulicht. Das didaktisch gut
konzipierte Kapitel ist auch als praktische Hilfe für den Übersetzer
anzusehen: Er kann die aufgezählten Verfahren und Beispiele als
Orientierung nutzen und das für seinen Übersetzungszweck
bestmögliche Verfahren auswählen.
Kapitel
IV (169-259) beschäftigt sich mit Realien der besonderen Art: mit
Realien-Phraseologismen. Darunter sind kulturspezifische
Phraseologismen zu verstehen, die zu den Realien gezählt werden
können (171). Phraseologismen lassen sich nach Auffassung der
Autorin in zwei grundsätzliche Gruppen einordnen:
- Ausdrücke, die Realien sind („Realien-Phraseologismen“), und
- Ausdrücke, die nicht als Realien anzusehen sind.
In
die erste Gruppe gehören u.a. Wortverbindungen, die selbst eine
Realie enthalten (z.B. einen Eigennamen) oder auf einen
kulturspezifischen Hintergrund verweisen. In die zweite Gruppe
gehören solche Phraseologismen, die z.B. kulturübergreifende
menschliche Erfahrungen wiedergeben oder die international bekannt
sind, weil sie auf ein gemeinsames Kulturgut (z.B. die Bibel)
zurückgehen.
Für
die Übersetzung von Phraseologismen liegen Methoden vor, auf die der
Übersetzer zurückgreifen kann. Bei der Methodenwahl müssen u.a.
die Unterschiede zwischen quantitativer und qualitativer
Übersetzungsrelevanz beachtet werden. Quantitativ sind
Phraseologismen dann relevant, wenn sie in einem Text besonders
häufig vorkommen, eine qualitative Relevanz ist gegeben, wenn sie
entscheidend zur Textkonstitution beitragen. Um für die
Realien-Phraseologismen die „beste“ Übersetzung zu finden,
genügt es nicht, nur den Phraseologismus selbst zu betrachten: Der
ganze Text muss in den Prozess mit einbezogen werden.
Nach
diesen allgemeinen Überlegungen wird anhand von drei ungarischen
Realien-Phraseologismen und deren Übersetzung gezeigt, welche
Entscheidungen die jeweiligen Übersetzer zu treffen hatten und wie
diese Entscheidungen den Aufbau des zielsprachlichen Textes
beeinflussten.
Der
vorliegende Band zeigt also anhand zahlreicher Beispiele, welche
Auswahlprozesse bei der Übersetzung kulturspezifischer Ausdrücke
nötig sind und welche Methoden zur Verfügung stehen, um eine
entsprechende Übersetzung dieser Ausdrücke zu finden. Die
interdisziplinäre Betrachtungsweise der Autorin ermöglicht es dem
Leser, die angesprochenen Übersetzungsschwierigkeiten in ihrer
Komplexität zu sehen und als solche besser zu verstehen, wobei die
beschriebenen Methoden zur Lösung dieser Schwierigkeiten beitragen.
Beim
Sprachenpaar Ungarisch – Deutsch zeigen sich sowohl Vorteile als
auch Nachteile. Ein diesbezüglicher Vorteil liegt ohne Frage in der
großen
Beispielfülle. Von
Nachteil ist hingegen, dass die ungarischen Realien in Deutschland
weniger bekannt sind und deshalb detailliert erklärt werden müssen
– ein Problem, das die Autorin jedoch mit Geschick angeht: Sie
erklärt bei jeder Realie ausführlich die Konnotationen und
Bedeutungen, die bei der Übersetzung berücksichtigt werden müssen.
Neben den Beispielen für mögliche Übersetzungen bzw. neben den
Erklärungen werden - soweit möglich - auch die wortwörtlichen
Übersetzungen der Realien angegeben. So bekommt der Leser einen
besseren Überblick über die Entscheidungsfaktoren, die zu der
jeweiligen Übersetzung geführt haben.
Die
Monographie ist in erster Linie (angehenden) Übersetzern zu
empfehlen, die Antworten auf die Frage suchen, wie sich
kulturspezifische Ausdrücke übersetzen lassen. Das Sprachenpaar
Ungarisch – Deutsch sollte dabei einen potentiellen Leser nicht
abschrecken: Die ungarischsprachigen Beispiele sind detailliert
erklärt und die beschriebenen Ansätze und Methoden sind prinzipiell
auf jedes beliebige Sprachenpaar übertragbar. Der didaktisch
durchdachte und gut aufgebaute Band eignet sich deshalb sehr gut als
Unterrichtsmaterial für die Übersetzerausbildung wie auch für das
Selbststudium.
Rezensent:
Dr.
László Kovács
Universitätsdozent
Westungarische
Universität
Lehrstuhl
für Angewandte Linguistik
Berzsenyi
tér 2
9700
Szombathely
Ungarn
E-Mail:
klaszlo@btk.nyme.hu