Volume 5 (2014) Issue 1
Die Vermittlung von Lesefertigkeiten
im Chinesischunterricht -
ein Diskussionsbeitrag
Chris
Merkelbach (Taipeh, Taiwan)
Abstract
(English)
Based
on the observation that foreign students in Chinese-speaking
countries encounter major problems reading extensive academic texts
within an allotted time frame, this article puts forward the idea of
teaching reading strategies in Chinese as a Second Language (CSL)
classes. Following the introduction of the special features of
written Chinese, the mental process
for reading in a foreign language is discussed.
The article takes into special account that CSL-learners have, prior
to learning Chinese, usually learned other foreign languages and can
be regarded as experienced tertiary language learners. Furthermore,
the different reading styles for various foreign languages are
described in detail and finally, the article delineates how
these strategies may be trained in
CSL classes on the sentence and the text level.
Key
words: Chinese as a Foreign Language, reading styles, reading
strategies
Abstract (Deutsch)
Basierend
auf der Beobachtung, dass ausländische Studierende in
chinesischsprachigen Ländern erhebliche Probleme beim Lesen
umfangreicher wissenschaftlicher Texte innerhalb eines vorgegebenen
Zeitraums haben, beschäftigt sich dieser Artikel mit der Vermittlung
von Lesestrategien im Unterricht Chinesisch
als Fremdsprache (ChaF).
Zunächst werden die besonderen Merkmale der chinesischen
Schriftsprache dargestellt, danach der mentale Prozess, der beim
Lesen in einer fremden Sprache zu beobachten ist. Der Artikel
berücksichtigt, dass Chinesischlerner in der Regel bereits andere
Fremdsprachen gelernt haben und als erfahrene L3-Lernende gelten.
Außerdem werden die verschiedenen Lesestile für Fremdsprachen im
Detail beschrieben. Abschließend geht der Artikel darauf ein, wie
Lesestrategien ChaF-Unterricht auf Satz- und Textebene geschult
werden können.
Stichwörter:
Chinesisch als Fremdsprache, Lesestile, Lesestrategien
1 Einleitende Überlegungen und Forschungsüberblick
Mit
der Zunahme westlicher Studierender, die regulär an den
Universitäten in Taiwan studieren, hat auch das Interesse an und die
Bedeutung der Vermittlung von Chinesisch als Fremdsprache, besonders
in fachsprachlichen Zusammenhängen, zugenommen. Eine besondere
Problematik stellt immer wieder die Vermittlung von extensivem Lesen
im chinesischsprachigen Unterricht dar. Lehrende berichten häufig
davon, dass sich ihre europäischen bzw. westlichen Studierenden über
die Länge der zu lesenden Texte beschweren1.
Deutsche Studierende berichten, dass es ihnen keine Schwierigkeiten
mache, lange Fachtexte auf Englisch zu lesen, sie bei chinesischen
argumentativen Texten allerdings oft kläglich scheitern und folglich
unvorbereitet in den Unterricht gehen. Inhaltlich wurden die zu
bewältigenden Texte im Nachhinein selten als schwer eingestuft. In
vertiefenden Gesprächen taten sich dafür verschiedene Ursachen auf:
- mangelnde Vokabelkenntnisse und das damit verbundene endlose Nachschlagen von Vokabeln,
- fehlende grammatische Kenntnisse, aber auch
- fehlende Kenntnisse darüber, wie fremdsprachige Texte inhaltlich dekodiert werden können.
Bei
Nachfragen, welche Lesestrategien sie kennen, wurde von den
Studierenden weitgehend mit Unverständnis reagiert, frei nach dem
Motto: "Man liest halt und versteht es oder nicht".
Lesestrategien sind weithin unbekannt. An dieser Stelle sollen
exemplarisch zwei westliche Studierende zitiert werden, die wir zum
Lesenlernen im Chinesischunterricht befragt haben2.
Ein Studierender der Sinologie und Wirtschaftswissenschaften aus
Deutschland erinnert sich:
Die ersten beiden Semester haben wir ... eigentlich nicht viel gelesen. Die Texte im Lehrbuch waren auch eher kurz, aber wenn wir gelesen haben, dann hat der Lehrer zuerst den Satz oder Abschnitt alleine vorgelesen, dann erklärt und dann haben wir den Satz gemeinsam nachgesprochen. ... Gegen Ende des zweiten Semesters haben wir dann damit angefangen, dass jeder immer einen kurzen Teil des Textes [vor]liest. ... Im dritten und vierten Semester haben wir längere und auch mehr Texte gelesen, dabei musste immer einer den Satz, der gerade dran war, zuerst vorlesen und dann übersetzen. Wenn ein Text zu Ende war, dann haben wir den Text wieder zusammen im Chor gelesen. Am Anfang des Semesters hier [in Taiwan, CM] ... hat man uns noch einige Sätze vorgelesen oder man musste in einer Art Partnerarbeit den Text gemeinsam lesen und auch darauf achten, dass der jeweils andere alles richtig liest.... Lesetechniken kenne ich eigentlich nicht so viele und wirklich nahe gebracht hat die mir auch niemand, aber ich weiß von einer, die intensives Lesen heißt und dass es dabei um das vollständige Erfassen des Lesetextes und um textsortenspezifisches Untersuchen [geht]. Oder? [Martin, 23 Jahre, Interview vom 03.01.2013].
Sprachvermittlung
und Übersetzen werden von diesem Studenten als Ziel der Textarbeit
angegeben. Lesestrategien scheinen dagegen kein Unterrichtsgegenstand
zu sein. Auch Überlegungen über Vorkenntnisse zu Textinhalten oder
zu generellem Vorwissen werden während des gesamten Interviews nicht
erwähnt. Ein
amerikanischer Studierender berichtet
Ähnliches:
I remember when first learning to read Chinese, we had a character workbook. First we had to learn some radicals and then we started to learn to write down everything we could say in class from the textbook. We were almost never exposed to words, not in the textbook, written or aural. … Even in third year Chinese, when we started to read longer texts, all of the words we didn't know were prepared for us in a vocabulary bank. We were not taught to guess from context or by deconstructing characters. … Nowadays I may try to guess the pronunciation of unknown characters or vocabulary words, but I'm not sure how much what I learned in class helps with this. As for different types of reading skills, we certainly did, in third year, have to do comprehension questions and critical reading questions, but we didn't do much, if any, main ideas reading or skimming or scanning. We had to do a lot of translation on tests (Robert, 25 Jahre, E-Mail vom 13.01.2013).
Auch
hier scheint sich Textarbeit weitgehend auf die Vermittlung von
Schriftzeichen, Sprachstrukturen und das Übersetzen zu beschränken.
Auffallend bei allen Interviews war ebenfalls, dass nie Stellung zu
den Inhalten der Texte bezogen wurde. Dies kann verschieden
interpretiert werden: Die Texte waren in der Regel wirklich
interessant oder es ist generell nicht von Interesse, welche
Textinhalte für den Unterricht zur Verfügung standen, Im
Mittelpunkt steht nicht der Inhalt, sondern das Lernen und Übersetzen
von Schriftzeichen.
Die
Tendenz zum Übersetzen als wichtigster Lesestrategie findet sich
auch in der Fachliteratur wieder: Diao (2010) weist in ihrer
Untersuchung zu Lesestrategien bei deutschen Chinesischlernenden
eindringlich auf die Wichtigkeit von Lesestrategien hin und definiert
sie zutreffend als "explizit auf Probleme bezogene, teilweise
beobachtbare und bewusst einsetzbare Problemlösungstechnik[en] beim
Chinesischlernen" (Diao 2010: 172). Sie untersucht die
Lesestrategien deutscher Schüler und
Schülerinnen während des Lesens chinesischer Texte mit Hilfe des
Verfahrens des lauten Denkens (z.B. Heine 2005 und Cohen 1987)
und zeichnet dabei ein differenziertes Bild der verwendeten
Lesestrategien: Die Probanden konnten "bekannte Teile in
unbekannten Schriftzeichen ... erkennen und unbekannte Schriftzeichen
als Bestandteil eines bekannten Schriftzeichens zuordnen" (Diao
2010: 176). Ebenfalls waren die Probanden in der Lage, ihr
semantisches und grammatisches Wissen aktiv auf Unbekanntes zu
übertragen (Diao 2010: 178) und aus dem Kontext angemessen zu
erschließen (Diao 2010: 179). Eine weitere, sehr wichtige
Lesestrategie ist, dass unbekannten Schriftzeichen keine große
Aufmerksamkeit geschenkt wurde und diese als Leerstellen im Text
betrachtet wurden (Diao 2010: 180). Allerdings hielten sich die
Schüler und Schülerinnen bei unbekannten Wörtern mit bekannten
Schriftzeichen lange auf, um deren Bedeutung zu erschließen.
Die
von Diao beschriebenen Ergebnisse sind wichtig. Sie schlussfolgert
daraus, dass die von ihr angewendete Datengewinnungsmethode des
Laut-Denk-Verfahrens den Grad der Metakognition erhöhe (Diao 2010:
181). Hervorzuheben ist, dass die Fragen zum Text in der L1 gestellt
wurden, was nahelegt, dass die Autorin das Leseverstehen und die
Beantwortung von Fragen als verschiedene mentale Prozesse bewertet.
Leider geht sie in ihrem Aufsatz darauf nicht weiter ein. Die Autorin
stellt zwar die Wichtigkeit von Lesestrategien heraus,
didaktisch-methodischen Konsequenzen formuliert sie jedoch nicht.
Ptaszynski
(2009) untersucht, die Beeinflussungsfaktoren von im Unterricht
angewendeten didaktischen Methoden für die Lesestrategien von
Chinesischlernenden. Sie verglich Studierende auf unterschiedlichem
Niveau und aus verschiedenen Institutionen und befragte dazu auch
Lehrende mithilfe von Interviews. Ihr Erkenntnisinteresse wurde durch
die Tatsache geleitet, dass es in den letzten Jahrzehnten viele
Untersuchungen zu Methoden gab, die die Schriftzeichenerkennung
fördern – sie bezieht sich dabei u.a. auf die Untersuchungen von
Ke (1998) und Shen (2004), sowie auf verschiedene Studien, die den
Einfluss verschiedener Lesestrategien auf das Textverstehen
untersuchten, wie diejenigen von Everson & Ke (1997) und Lee
(1998). Als Ergebnis ihrer Studie stellt die Autorin zu Recht fest,
dass das Übersetzen der Texte den Lesefluss verlangsamt. Eine
Ursache verortet sie bei der mangelnden Sprechfertigkeit der
Studierenden (Ptaszynski 2009: 102). Studierende, die im Chinesischen
eine gute Sprechkompetenz aufweisen, nutzen die Strategie, Texte zu
deren Verständnis zu übersetzen, weitaus weniger. Ptaszynski kommt
zu dem Schluss, dass eine Stärkung der mündlichen Sprachkompetenz
dem Lesen förderlich sei:
Focus on spoken language skills in class would thus help students to develop better speaking skills they can draw on while reading. It would also make them avoid having to go through the time-consuming translation (Ptaszynski 2009: 102).
Ihr
Ergebnis stützt die Ergebnisse der Studie von Everson aus dem Jahre
1998. Weiterhin
stellt die Autorin fest, dass der Schreibunterricht für das Lesen
von außerordentlicher Wichtigkeit erscheint:
Teaching character composition beyond the very basic character learning appears to be beneficial, as it allows students to use character analysis effectively to guess at unknown vocabulary. (Ptaszynski 2009: 103)
Auch
betont sie die Anwendung von Top
down-Strategien
für das Textverständnis, ohne jedoch genauer darauf einzugehen
(Ptaszynski 2009: 103). Ptaszynskis Ergebnisse sind überaus
aufschlussreich, aber auch diese Autorin überlässt es den
Lehrenden, sich passende Methoden und didaktische Ansätze zur
Vermittlung von Lesestrategien im Chinesischunterricht auszudenken.
Aus ihren Ausführungen geht zudem nicht klar hervor, welche
Unterrichtsmethoden welche Lesefertigkeiten beeinflussen.
Die
Untersuchung von Ptaszynski (2009), aber auch die von ihr
analysierten Untersuchungen (Everson und Ke 1997, Ke 1998, Lee 1998,
Shen 2004) und auch die Untersuchung von Diao (2010) stellen vor
allem den Prozess der Schriftzeichenerkennung als Lesestrategie in
den Vordergrund. Wir halten es nicht für ausreichend, die
Vermittlung von Lesestrategien als Teil der Wortschatzarbeit und des
Schriftzeichenerwerbs zu betrachten. Vielmehr muss diese als
eigenständige Fertigkeit im Chinesischunterricht gesondert gefördert
werden. Dass dies prinzipiell möglich ist - zumindest auf
theoretischer Ebene - wird in Lehrwerken für solche Fremdsprachen
gezeigt, die mit einer alphabetischen Schrift arbeiten bzw. sich am
Gemeinsamen europäischen Referenzrahmen (GeR) orientieren.
Aus
einer anderen Perspektive nähert sich Schindelin (2012: 62ff) dem
Thema Lesen
und Leseverstehen im Chinesischunterricht,
ohne sich nur auf die Dekodierung einzelner Schriftzeichen zu
beschränken. Die Autorin beschreibt den Leseunterricht und zeigt zu
Recht die Probleme auf, die dabei durch das Chinesische für deutsche
Lernende auftreten:
Eine Ursache des Problems liegt in dem stets begrenzten Inventar an Schriftzeichen, das man kennt und beherrscht. (Schindelin 2012: 62)
Weiter
stellt die Autorin fest, dass
die anderen Hindernisse, die das Lesen 'ausbremsen', ... die geringe Übung in und Erfahrung mit der Rezeption der Sprache in Form längerer Phasen als nur Frage und Antwort oder kurzer Dialoge [sind] und daraus folgend die gering entwickelte Fertigkeit, das Aufgenommene strukturell aufzuschlüsseln und inhaltlich zu verarbeiten, also zu verstehen. Auch Fortgeschrittene – das kann man immer wieder beobachten – haben noch Schwierigkeiten, geringfügig komplexere Attribute und adverbiale Bestimmungen zu erkennen und zu verarbeiten. Über die 'reinen' Schriftzeichen- und Vokabelkenntnisse hinaus sind daher tatsächliche 'Sprachkenntnisse' syntaktischer, kollokationeller und pragmatischer Art notwendig sowie eine entwickelte Fertigkeit zu ihrer Verarbeitung, und das alles in einem nicht ganz geringen Maß (Schindelin 2012: 62f).
Die
Konsequenz, die sie daraus zieht, dass man Lesen durch Lesen erlerne
aber nicht durch Reflektieren über das Lesen (Schindelin 2012: 64),
beruht unserer Ansicht nach auf ihren eigenen Erfahrungen (Schindelin
2012: 63). Ihrer Behauptung soll im Folgenden begründet
widersprochen und für eine Reflexion des Lesevorganges im
Chinesischunterricht plädiert werden.
Chiang
(2010: 94) stellt zu Recht fest, dass die meisten Untersuchungen zum
Lesen des Chinesischen sich auf die Dekodierung der einzelnen
Schriftzeichen beziehen. Die Untersuchungen sind also der
Sinographemdidaktik zuzuordnen. Auch die Untersuchungen zum Einfluss
der L1 auf die Dekodierung des Chinesischen beziehen sich fast
ausschließlich auf die Wortebene. Die wenigen Untersuchungen, die
das Textverständnis von Chinesischlernern untersuchen, beziehen sich
ihrer Ansicht nach nur auf bereits weit fortgeschrittene Lernende.
Die Autorin moniert, dass Untersuchungen zum Lesen chinesischer Texte
bei Lernenden mit unterschiedlichen Niveaus fehlen. Ebenfalls stellt
sie fest, dass Untersuchungen zu Lesestrategien - aber auch zu einem
pädagogisch kohärenten Lesetraining - fehlen. Trotz ihrer
Langzeituntersuchung zu den Lesestrategien bei Chinesischlernern auf
unterschiedlichen Sprachniveaus ist ihre Kritik u. E. bis heute
berechtigt. Die von ihr untersuchten Gruppen sind für eine
repräsentative Aussage zu klein, allerdings lassen ihre Ergebnisse
deutliche Hinweise auf die Problematik der Lesefertigkeiten bzw. der
Lesestrategien bei Chinesischlernern erkennen und geben eine klare
Forschungsrichtung vor.
Ebenso
ist festzustellen, dass die meisten Untersuchungen zum Lesen von
Schriftzeichen mit chinesischen Muttersprachlern durchgeführt wurden
(z.B. Spinks, Liu, Perfetti & Tan 2000, Tan, Liu, Perfetti,
Spinks, Fox & Gao 2001), so dass in der Konsequenz zwar wichtige
neurobiologische Erkenntnisse zur Erkennung von Schriftzeichen zu
Tage treten, diese aber nur bedingt auf Chinesischlerner mit anderen
Muttersprachen übertragbar sind. Die wenigen Untersuchungen, die
sich mit der Schriftzeichenerkennung bei Nicht-Muttersprachlern
beschäftigen, gehen von Muttersprachlern des Englischen (meist aus
den USA) aus. Dabei wird in der Regel auch die Tatsache
vernachlässigt, dass es sich bei Chinesischlernern – zumindest in
Kontinentaleuropa - um solche Lernenden handelt, die bereits mehrere
(Fremd-)Sprachen beherrschen und neue Fremdsprachen aufgrund früherer
Lernerfahrungen und eines größeren metalinguistischen Wissens
anders erlernen.
Die
Frage, die nun im Raum steht, ist, welche mentalen Prozesse beim
Lesen in einer fremden Sprache ablaufen. Wir beschränken uns bei
unseren Ausführungen im Wesentlichen auf
geisteswissenschaftlich-argumentative Texte;
technisch-naturwissenschaftliche Texte werden dagegen hier nicht
berücksichtigt. Zunächst wird geklärt, welche mentalen
Verarbeitungsprozesse beim Lesen ablaufen. Dabei wird berücksichtigt,
inwieweit diese in der L1 erworbenen Fertigkeiten auf das Lesen
fremdsprachlicher Texte übertragbar sind. Anschließend werden die
verschiedenen Lesestile thematisiert und die Methoden, die der
Vermittlung von Lesefertigkeiten im Fremdsprachenunterricht zugrunde
liegen, besprochen. Zum Abschluss werden einzelne Methoden mit Blick
auf eine praktische Anwendung hin vorgestellt und eingehend
erläutert.
Zunächst
sollen jedoch einige grundlegende Informationen zur chinesischen
Schrift, die im Mittelpunkt dieses Aufsatzes steht, gegeben werden.
2 Die chinesische Schrift
Die
chinesische Schrift ist für den Laien wohl auf den ersten Blick
immer der faszinierendste Teil der chinesischen Sprache: Die
Schriftzeichen sehen wie gemalt, und für den Laien ist auf den
ersten Blick scheint keinerlei Systematik erkennbar. In der
Fremdsprachendidaktik Chinesisch im deutschen Sprachraum hat es in
den letzten Jahren mehrere hervorragende Ansätze gegeben, die
Schriftzeichen für Lernende zu systematisieren und zu didaktisieren
(Guder-Manitius 1999, Schindelin 2004). Dabei beziehen sich beide
Autoren auf eine lange Tradition chinesischer Forschungen zu diesem
Bereich, vor allem zur Phonetizität der chinesischen Schriftzeichen.
Im
folgenden Abschnitt sollen die Besonderheiten der chinesischen
Schrift im Hinblick auf das Lesen kurz dargestellt werden.
Bezugspunkt dabei ist, wenn nicht anders angegeben, das Buch von
Schindelin (2004), das an dieser Stelle ausdrücklich für eine
tiefer gehende Beschäftigung mit diesem Sachverhalt empfohlen wird.
Allerdings kann im Rahmen des vorliegenden Artikels keine
erschöpfende Darstellung der Besonderheiten der chinesischen
Schriftsprache und deren Dekodierung beim Lesen erfolgen. Ziel der
Beschreibung ist es lediglich, auf die Besonderheiten, die bei der
schriftlichen Rezeption des Chinesischen existieren, hinzuweisen.
In
der englischsprachigen Fachliteratur liest man immer wieder, dass es
sich beim Chinesischen im Vergleich zu alphabetischen bzw.
phonetischen Schriften westlicher Sprachen um eine logographische
Schrift handele (z. B. Ho & Bryant 1997: 276). Dabei wird davon
ausgegangen, dass jedes Schriftzeichen logographisch ein
monosyllabisches Morphem repräsentiert. Dieser Ansatz führte zu der
Annahme, dass chinesische Schriftzeichen als Logogramme auswendig
gelernt würden (Ho & Bryant 1997: 279). In diesem Zusammenhang
wurde die Hypothese des direkten Zugangs zur Bedeutung (direct
access hypothesis) vertreten, welche besagt, dass die Bedeutung
eines Schriftzeichens direkt bei der visuellen-orthographischen
Wahrnehmung erschlossen würde - also ohne den Umweg über eine
phonetische Realisierung (z. B. Wong & Chen 1999). Schnell wurde
jedoch angenommen, dass diese Herangehensweise die
Speicherungskapazität des menschlichen Gehirns übersteige. Andere
Modelle legen nahe, dass zur Bedeutungserschließung chinesischer
Schriftzeichen sowohl eine graphematische als auch einen phonetische
Rekodierung vonstattengeht (vgl. hierzu z.B. die Untersuchungen von
Tan & Perfetti 1997, 1998; aber auch Tan, Spinks, Eden, Perfetti
& Siok 2005).
Schindelin
stellt ausdrücklich fest, dass "Attribute wie 'piktographisch',
'logographisch'
oder gar 'ideographisch'"
(Schindelin 2004: 5) die moderne chinesische Schriftsprache nicht
angemessen charakterisieren. In Anlehnung an De Francis (1984)
beschreibt die Autorin die chinesische Schrift als morphosyllabisch:
Hierin kommt zum Ausdruck, dass Schriftzeichen in Texten in aller Regel als jeweils eine Silbe zu lesen sind und sie dabei jeweils ein Morphem – als Morph - realisieren. Diese Bezeichnung betrifft das Verhältnis der Schrift zur phonetischen Ebene der Silben und zur morpho-lexikalischen Ebene. (Schindelin 2004: 5f)
Allerdings
wird bei dieser Beschreibung das innere Beziehungsgeflecht der
Schriftzeichen vernachlässigt. In Anlehnung an Qiu Xigui (1988:
10ff), der die Beschreibung als morphosyllabische Schrift für nicht
ausreichend hält, lässt sich nach Schindelin (2004: 6) die
chinesische Schrift typologisch weiterhin als signifisch-phonetische
Schrift beschreiben. Die chinesischen Schriftzeichen sind folglich
aus drei Komponenten zusammengesetzt: einem Signifikum, einem
Phonetikum und einem unmotivierten bzw. mnemonischen Graphem:
Von den mindestens zwei Komponenten eines komplexen Schriftzeichens hat oft eines die Funktion, auf die ungefähre – oder ursprüngliche - Bedeutung hinzuweisen (Signifikum), während ein anderes einen ungefähren Hinweis auf die Aussprache geben kann (Phonetikum). (Schindelin 2004: 6)
Unmotivierte
Grapheme lassen synchronisch keinen Rückschluss auf
Bedeutungskategorie oder Aussprache zu. Um die Einordnung der
chinesischen Schrift typologisch zu vervollständigen, greift
Schindelin mit Einschränkungen auch auf die Beschreibung der
Schriftsprache durch Haas (1983: 16) als
pleremische
Schrift zurück (Schindelin 2004: 7f): Als pleremische Schrift
bezeichnet Haas solche Schriften, "deren Grundeinheiten
sprachliche Einheiten der lexikalischen oder der morphemischen Ebene
repräsentieren" (Schindelin 2004: 7).
Schindelin
stellt abschließend eine Kategorisierung von Su Peicheng (2001:
93ff) vor, die die Schriftzeichen der Gegenwartssprache nach
unterschiedlichen Zusammensetzungsweisen ordnet. Diese
Kategorisierung gibt trotz der von Schindelin (2004: 15) berechtigt
vorgetragenen Einwände deutlichen Aufschluss darüber, dass es sich
bei der chinesischen Schriftsprache nicht um willkürlich gemalte
Piktogramme oder Logographen handelt, sondern um ein hochkomplexes
Schriftsystem mit einer inhärenten Logik. Chinesische Schriftzeichen
lassen sich sechs Kategorien zuordnen:
- Assoziativkomposita, die sich aus zwei oder mehr Signifika zusammensetzen.
- Signifisch-phonetische Schriftzeichen, die sich aus einem Signifikum und einem Phonetikum zusammensetzen.
- Halb signifische, halb mnemonische Schriftzeichen, die sich aus Signifika und Mnemonika zusammensetzen.
- Halb phonetische, halb mnemonische Schriftzeichen, die sich aus Phonetika und Mnemonika zusammensetzen.
- Einfache mnemonische Schriftzeichen, die aus einem Mnemonikum bestehen
- Zusammengesetzte mnemonische Schriftzeichen, die sich aus zwei oder mehreren Mnemonika zusammensetzen (Schindelin 2004: 14).
Aus
den Ausführungen zur chinesischen Schriftsprache geht
unmissverständlich hervor, dass dem Erwerb chinesischer
Schriftzeichen im Unterricht Chinesisch als Fremdsprache
berechtigterweise ein breiter Raum eingeräumt werden muss.
3 Mentale Verarbeitungsprozesse beim Lesen
Lesen stellt eine spezifische, zielorientierte Form der rezeptiven Informationsverarbeitung dar, bei der sich die Leser auf die graphischen Zeichen und damit auf eine visuell orientierte Verarbeitungsweise stützen als auch auf sprachlich formale Kompetenzen und auf domänenspezifisches Weltwissen". Noldt & Willenberg 2007: 23)
Für
die Lesevermittlung im Fremdsprachenunterricht müssen wir uns
zunächst darüber im Klaren sein, was es bedeutet zu lesen.
Kenntnisse und Hypothesen über den muttersprachlichen Leseprozess
werden weitgehend für den Erwerb des Lesens in der Fremdsprache
zugrunde gelegt und darauf übertragen (Lutjeharms 2011: 977,
kritisch dazu Grabe 2002).
Ob
es sich beim Lesen verschiedener Sprachen um einen universellen
mentalen Prozess handelt, lässt sich derzeit nicht abschließend
beurteilen. Allerdings lassen die gegenwärtig vorliegenden
Forschungsergebnisse dies unter Vorbehalt als recht wahrscheinlich
erkennen.
Leseverstehen
beruht auf einer rezeptiven Sprachkompetenz, die
Informationsverarbeitungs- und Verstehensprozesse voraussetzt
(Noldt, Rossa 2007: 197). Rezeptive Sprachkompetenz ist dabei jedoch
nicht als passiver Vorgang zu begreifen. Das Lesen ist vielmehr ein
aktiver Informationsverarbeitungs- und Verstehensprozess (Krumm 1990:
21).
Dohrn
definiert die Lektüre von Texten einfach und sehr zutreffend als die
Erschließung und Verarbeitung satzübergreifender Zusammenhänge.
Mit dem Adjektiv satzübergreifend
meint sie an dieser Stelle, dass die Leser alle Textsorten beliebiger
Länge und mit unterschiedlichen Schwierigkeitsgraden verstehen
können (Dohrn 2007: 163). Lesen
bedeutet also Verstehen.
Diese vermeintlich triviale Erkenntnis bezieht sich nicht auf die
einzelnen Wörter eines Textes, sondern auf die Kompetenz, Texte zu
dekodieren und diese inhaltlich wiederzugeben und zu interpretieren.
Dieser Prozess schließt verschiedene Transferleistungen auf andere
Sinnzusammenhänge ein (Dohrn 2007: 163). Dohrn geht davon aus, dass
im Wesentlichen drei empirisch unterscheidbare Teildimensionen in die
Lesekompetenz einfließen:
- Informationen entwickeln
- textbezogenes Interpretieren
- Reflektieren und Bewerten
Reflexion
und Bewertung stellen die höchste Stufe des Textverstehens dar, da
den Lesern abverlangt wird, die neuen Textinformationen mit eigenen
Wissensbeständen in Beziehung zu setzen (Dohrn 2007:164). Es wäre
jedoch unzulässig vereinfachend anzunehmen, dass die Lesekompetenz
gleichsam automatisch als Endprodukt der basalen Lesefähigkeit
erreicht wird.
Buhlmann
& Fearns definieren Lesen als "eine Form von Kommunikation,
die unter Entnahme von Information aus geschriebenen Texten
stattfindet" (Buhlmann & Fearns 2000: 235). Beim Lesen
wirken verschiedene Faktoren zusammen: Aufmerksamkeit, das Erkennen
von Textstrukturmerkmalen und deren Beziehung zueinander, die
Speicherung im Gedächtnis und die Antizipation von Inhalten. Die
Lesenden müssen also verschiedene komplexe Aktivitäten durchführen.
Sie müssen die Sinneinheiten wahrnehmen . d.h. Wörter
identifizieren -, deren Funktionen erfassen, das Globalthema
erfassen, die Gesamtintention ableiten sowie die verschiedenen
Bedeutungsaspekte eines Textes wahrnehmen und in Zusammenhänge
einordnen können - also referenzielle Beziehungen herstellen. Hinzu
kommen Fertigkeiten wie, die Sätze eines Textes syntaktisch zu
analysieren, propositionale Bedeutungen zu erfassen und übergeordnete
Einheiten zu bilden (Ehlers 1998:78). Lesen als Verstehen
bedeutet in diesem Zusammenhang das Herstellen kohärenter
Zusammenhänge, in die sich einzelne Informationen einordnen lassen:
Beim Lesen geht es um die Analyse visueller Informationen, wobei die räumlich präsentierten Schriftzeichen mit sequenziellen Folgen von Lauten verbunden werden müssen. Dabei hängen sowohl sprach- und lesebezogene Prozesse, als auch allgemein kognitive Prozesse zusammen. (Ehlers 1998: 73-74)
An
dieser Stelle soll nochmals betont werden, dass das Lesen ein aktiver
Prozess ist, der von den Lernenden aktive Verstehensstrategien
erfordert, die im Fremdsprachenunterricht idealerweise vermittelt
werden sollten. Das Verstehen beim Lesen ist nicht etwa ein Prozess,
der automatisch beim Erwerb der Wörter und der morpho-syntaxtischen
Strukturen einer fremden Sprache vonstattengeht, sondern er muss
gezielt als eigenständige Fertigkeit unter Zuhilfenahme der
lexikalischen und morpho-syntaktischen Kenntnisse für jede Sprache
neu erarbeitet werden.
In
den 1960er Jahren wurde das Lesen entweder als ein Prozess der
Hypothesenbildung (Top down-Modell) oder als ein
datengeleiteter Prozess (Bottom
up-Modell) betrachtet. Seit Mitte der 1980er Jahre geht
man jedoch von einem interaktiven Modell aus, in dem die
datengeleiteten und erwartungsbestimmenden Prozesse gleichzeitig und
interaktiv ablaufen. Dem Lesen wird seitdem Aufmerksamkeit sowohl
unter sprachbedingten als auch unter inhaltlichen Gesichtspunkten
geschenkt (Lutjeharms 2011: 976). Dazu treten als Prozesse der
Informationsverarbeitung die automatische und die bewusste
Verarbeitung. Die automatische Informationsverarbeitung läuft rasch
und ohne Kapazitätsbeschränkung ab, wohingegen die bewusste
Verarbeitung, die für die Aufnahme von Inhalten und neuen bzw.
unerwarteten Informationen erforderlich ist, Aufmerksamkeit und
Anstrengung erfordert (Lutjeharms 2011: 977). Mit anderen Worten, ist
das Lesen sowohl ein automatisch ablaufender als auch ein bewusster
Prozess. Beim Lesen in der Fremdsprache wird der bewusste,
kapazitätsfordernde Anteil größer sein als in der Muttersprache.
Diese Feststellung trifft ebenso auf Texte zu unbekannten und neuen
Themen zu. Formbezogene Informationen werden bei guter
Sprachbeherrschung von geübten Lesern automatisch verarbeitet, die
inhaltlichen Informationen müssen bewusst verarbeitet werden. Dies
geschieht durch einen Abgleich mit dem Weltwissen und dem den Lesern
bekannten Handlungsschemata. Es kann davon ausgegangen werden, dass
geübte muttersprachliche Leser diese Teilfertigkeiten auch in der
Fremdsprache anwenden. Diese Teilfertigkeiten müssen also nicht neu
erworben werden, sondern in der Fremdsprache eingeübt und trainiert
werden.
Stiefenhöfter
(1986: 60-62) untergliedert den Leseverstehensprozess in sieben
Teilschritte, wobei die ersten drei Schritte einem
Dekodierungsprozess und die letzten vier Schritte einer
interpretativen Verarbeitung des Textes auf inhaltlicher Ebene
entsprechen:
- Dekodierungsprozess:
- die Verarbeitung von Buchstaben und Wortformen
- die Verarbeitung von Wortbedeutungen
- die semantisch-syntaktische Verarbeitung
- Interpretationsprozess:
- die satzübergreifende Verarbeitung (Rekonstruktion der im Text zu lesenden Wissensstruktur)
- die inferentielle Verarbeitung (weggelassene Propositionen werden vom Lesenden durch Vorwissen substituiert)
- das elaborierte Interferieren (Lesende setzen den Textinhalt mit allgemeinem Weltwissen in Beziehung)
- die reduktive Verarbeitung (Reduktion und Anordnung der textuellen Propositionen im Gedächtnis nach inhaltlichen Kriterien)
Lutjeharms
(2011: 977f) geht von vier Verarbeitungsebenen aus, die beim Lesen
ablaufen:
- die graphophonetische Ebene
- die Ebene der Worterkennung
- die Ebene des syntaktischen Wissens
- die Ebene der Semantik
Auf
der grapho-phonetischen Verarbeitungsebene fixieren Leser mit den
Augen verschiedene Fixationspunkte. Geübte Leser fixieren dabei
weniger Wörter oder Wortteile als ungeübte Leser. Dies trifft
sowohl auf das Lesen in der Muttersprache als auch auf das in der
Fremdsprache zu. Beim Lesen in der Fremdsprache sind jedoch im
Allgemeinen aufgrund fehlender Sprachkenntnisse mehr Fixationspunkte
notwendig, so dass der Leseprozess langsamer verläuft. Solche
Wörter, die häufig auftreten, werden schneller verarbeitet. Dieser
Prozess trifft anscheinend auch auf das Lesen chinesischer Texte zu,
allerdings liegen über Abfolge und Geschwindigkeit noch keine
abschließenden Erkenntniss vor (Feng 2006). Feng kann lediglich
feststellen, dass die Fixation und die Augenbewegungen beim Lesen
chinesischer Texte bei Kindern mit englischer Muttersprache anders
ablaufen als bei Kindern mit chinesischer Muttersprache (Feng 2006:
193).
Lutjeharms
(2004: 70f) hebt die phonologische Rekodierung für den
Leseverstehensprozess hervor. Es kann davon ausgegangen werden, dass
die phonologische Repräsentation eines Wortes notwendig ist, um die
Information im Arbeitsgedächtnis für die Weiterverarbeitung
bereitzuhalten.
Ob
dies beim Chinesischen als Muttersprache auch der Fall ist, ist
umstritten (Wang, Yang 2008: 141; Hanley 2005: 325ff). Für
Nicht-Muttersprachler kam Everson bereits 1998 in einer Untersuchung
von 20 Studierenden zu folgendem Ergebnis:
Because the data in this study suggest that knowing the meaning and the pronunciation of characters seems to be closely related, the memorization of the large amount of characters needed for even beginning literacy seems doomed to failure without firm spoken language support (Everson 1998: 201).
Wu
konnte dieses Ergebnis in einer neueren Untersuchung mit 65
Teilnehmern auch schriftzeichenübergreifend bestätigen (2012: 1-22)
und
führt diese Tatsache darauf zurück, dass die Lernenden:
had the privilege to search their lexicon to match the sound and the meaning, in addition to processing the graphic features of characters to recall meaning. (…) Furthermore, without relying on processing graphic features of characters to access meaning and segment words, participants could allocate more attention and cognitive resources for higher level text comprehension and could employ more holistic reading strategies to construct meaning from the top down (Wu 2012: 12-13).
Weiterhin
stellt Wu fest:
Reading became less laborious after the phonological stimulus lifted participants beyond the word-by-word decoding task, allowing them to process meaning in larger chunks. (Wu 2012: 13)
Für
Studierende, die Chinesisch als Fremdsprache lernen, kann man wohl
berechtigterweise davon ausgehen, dass eine phonologische
Repräsentation des Wortes den Verstehensprozess unterstützt.
Allerdings existieren auch neuere Untersuchungen, die vorsichtig
davon ausgehen, dass eine gute Schreibfertigkeit den Zugang zur
Bedeutung der einzelnen Schriftzeichen positiv unterstützt (Tan,
Spinks, Eden, Perfetti & Siok 2005).
Auf
der Ebene der Worterkennung findet der lexikalische Zugriff auf
bereits bekannte Formen im mentalen Lexikon des Lesers statt. Dabei
kommt es anfänglich in einer Fremdsprache bei ungeübten Lesern zu
Übersetzungen in die Muttersprache oder eine andere, vorher gelernte
Fremdsprache (Lutjeharms 2004: 72). "Wörter in einem passenden
Kontext werden schneller erkannt als isolierte Wörter"
(Lutjeharms 2011: 978). Ursache dafür ist der sogenannte
Priming-Effekt, bei dem benachbarte Stellen im mentalen
Lexikon mit aktiviert werden und auf diese Weise das Verstehen in
einem Netzwerk vereinfachen.
Auf
der syntaktischen Verarbeitungsebene werden syntaktische Indikatoren
verarbeitet. Im Allgemeinen geht die Forschung davon aus, dass viele
der syntaktischen Indikatoren zu den Einträgen im mentalen Lexikon
gehören. Dies betrifft Informationen zur Wortklassenzugehörigkeit,
die morpho-syntaktische Struktur und die Valenz der Verben
(Lutjeharms 2004: 74ff). Bei guter Sprachbeherrschung gehen
Worterkennung und syntaktische Analyse automatisch vor sich
(Lutjeharms 2011: 978).
Das
eigentliche Textverstehen läuft auf der semantischen
Verarbeitungsebene ab. Es entsteht aus der Interaktion der oben
ausgeführten Dekodierungsprozesse mit dem inhaltlichen Vorwissen.
Dieser Arbeitsschritt erfordert Aufmerksamkeit (Lutjeharms 2011:
978), er geht also nicht automatisiert vonstatten.
Das
Ergebnis des Leseprozesses ist die mentale Repräsentation des
Textinhaltes. Diese ergibt sich aus einer Verdichtung der
Textinformationen im Abgleich zum Vorwissen:
In dieser Gedächtnisrepräsentation des Textes ist die Sprachstruktur nicht enthalten. (Lutjeharms 2011: 978f).
Mit
anderen Worten bedeutet dies, dass das inhaltliche Wissen durch den
Leseprozess erweitert wird. Dieses kann durch die Studierenden jedoch
nicht unbedingt in einer richtigen oder angemessenen Form schriftlich
bzw. mündlich in der Fremdsprache wiedergegeben werden, denn dafür
müssen dann andere Sprachfertigkeiten herangezogen und geübt
werden.
Unterschiede
zwischen dem Lesen in der Muttersprache und demjenigen in der
Fremdsprache ergeben sich bezüglich des Ausmaßes, in dem einzelne
Wörter und syntaktische Strukturen interpretiert sowie Wortfolgen
antizipiert werden (Noldt & Willenberg 2007: 28). Der Leseerfolg
in der Fremdsprache hängt letzlich auch davon ab, ob die Lesenden
die Lesestrategien aus der Muttersprache auf die Fremdsprache
übertragen können (Alderson 1984 und 2000).
Während
die obigen Ausführungen allgemein vom Lesen in einer Sprache
ausgehen, ohne zwischen dem Lesen von Texten in der L1, L2 oder gar
L3 zu unterscheiden, hat Berthele (2007) ein Modell einwickelt, das
den Prozess des Verstehens und Erschließens beim Lesens von Texten
in einer Tertiärsprache (L3) genauer erläutert. Einschränkend muss
an dieser Stelle erwähnt werden, dass sich Berthele auf das Lesen
von alphabetischen kodierten - genauer gesagt, germanischen -
Sprachen und nicht auf Sprachen mit signifisch-phonetischen
Schriftzeichen bezieht. Eine direkte Übertragung seines Modells ist
aufgrund der unterschiedlichen Verschriftung des Chinesischen sehr
schwierig, da weder auf der graphemischen
noch auf der phonetischen Ebene ein Rückschluss auf die L1 oder L2
der Lernenden zugelassen wird. Teile seines Modells sind jedoch
durchaus übertragbar, besonders im Hinblick auf die Einübung von
Lesestrategien: Zunächst stellt Berthele (2007: 16) fest, dass das
Produkt sprachlichen Verstehens ein mentales Modell ist. Mentale
Modelle zeichnen sich dadurch aus, dass sie
typischerweise systematisch aufeinander bezogene Informationen bezüglich der am Geschilderten Beteiligten (Menschen, Dinge, Entitäten) enthalten, sowie die örtlich-lokalen, temporalen, kausalen und intentionalen Relationen zwischen ihnen. (Berthele 2007: 16) [Hervorhebungen im Original, C.M.].
Das
mentale Modell konstituiert sich aus "einer Vielzahl von
sprachlichen und nicht-sprachlichen Wissensbeständen" (Berthele
2007: 17). Sprachliche Wissensbestände umfassen u.a. das mentale
Lexikon, aber auch Schemata, die etwa die Satzstruktur oder
Struktur(en) gesamter Texte (Textsortenschemata) betreffen. Das
mehrsprachige Verstehenssystem verfügt aber auch über
sprachbezogenes Strategiewissen, "d.h. über gezielt einsetzbare
kognitive Operationen, die es erlauben, dem nicht direkt
Verständlichen einen Sinn zu entlocken" (Berthele 2007: 18).
Nichtsprachliches Wissen umfasst das, was im Allgemeinen als
Weltwissen
bezeichnet wird. Berthele schließt auch den unmittelbaren Kontext
und den Kotext als entscheidenden Faktor in den Verstehensprozess mit
ein (Berthele 2007: 18) und kommt zu folgendem – im Hinblick auf
die Vermittlung von Lesestrategien sehr wichtigen und eindeutigen –
Schluss:
Das mentale Lexikon mag für bestimmte Sprachen erst einmal sehr klein erscheinen, die grammatischen Satzschemata mögen erst sehr partiell erworben sein, doch immer verfügen wir über die grundsätzliche Fähigkeit des Erschließens, des hypothetischen Bildens von Regeln auf Basis von wenig vertrautem Input (Berthele 2007: 25).
Das
mentale Modell ist also nicht als statisch anzusehen: Es wird im
Laufe des Leseprozesses ständig aktualisiert, revidiert und
verfeinert (Berthele 2007: 22) und speist sich aus verschiedenen
Kenntnissen und auch aus Erfahrungen mit verschiedenen vorher
gelernten Sprachen, meist dem Englischen, aber auch z. B. dem
Französischen oder dem Lateinischen. Diese Tatsache kann für das
Trainieren des Leseverstehens im Chinesischunterricht ausgenutzt und
gezielt vermittelt werden, wie weiter unten gezeigt werden soll.
4 Zur Klassifikation verschiedener Lesestile
Es
kann davon ausgegangen werden, dass sich jeder Studierende bereits in
der Muttersprache verschiedene Lesestile angeeignet hat, so dass
diese im Fremdsprachenunterricht nicht mehr neu eingeführt werden
müssen. Sie können dann zur Erreichung verschiedener didaktischer
Ziele eingesetzt werden.
Da
die Studierenden aber in der Regel nicht über ihre Lesestile
reflektieren, ist es nicht möglich, eine automatische Übertragung
auf das Lesen in der Fremdsprache zugrunde zu
legen. Eine Bewusstmachung der Lesestile ist also als
pädagogisches Ziel auch Gegenstand des Fremdsprachenunterrichts. Es
kann zwischen folgenden Lesestilen unterschieden werden:
Orientierendes Lesen
(Skimming)
Beim
orientierenden
Lesen
geht das Hauptinteresse des Lernenden dahin, sich grob über den
Inhalt des vorliegenden Textes zu informieren. Dabei stellt er z.B.
fest, um welche Art von Text es sich handelt. Auch werden
Informationen aus den dem Text zugeordneten Bildern, Grafiken oder
Überschriften zum Textverständnis entnommen. Ebenso kann der Leser
hierbei nach häufig vorkommenden Schlüsselwörtern suchen.
Suchendes Lesen
(Scanning)
Beim
suchenden Lesen
versuchen die Leser, bestimmte gedankliche Inhalte oder bestimmte,
besonders wichtige Wörter wiederzufinden. Der Blick der Leser
gleitet quasi diagonal über den Text.
Kursorisches Lesen
Beim
kursorischen Lesen
versuchen die Leser, den wesentlichen Inhalt der einzelnen Abschnitte
zu erfassen, ohne sich jedoch dabei auf bestimmte Begriffe und Wörter
zu konzentrieren (Lutjeharms 2002: 120).
Totales Lesen
Beim
totalen Lesen
versuchen die Leser, möglichst alle Informationen des Textes zu
erschließen, zu verarbeiten und mit ihrem Vorwissen abzugleichen.
Argumentatives Lesen
Der
für unser Anliegen wohl wichtigste Lesestil für
geisteswissenschaftliche Fachtexte ist das argumentative
Lesen. Lutjeharms
beschreibt das argumentative Lesen als
intensive Auseinandersetzung mit dem Textinhalt, wobei viel elaboriert wird, d.h. Inferenzen zum Textinhalt gebildet werden, die von den Verfassenden nicht intendiert wurden (2011: 981).
Der
Inhalt des Textes wird nicht nur mit dem vorhandenen Vorwissen
abgeglichen, sondern auch kritisch hinterfragt bzw. fördert eine
kritische Auseinandersetzung mit dem vorhandenen Vorwissen.
5 Die Vermittlung
von Lesestrategien
An
dieser Stelle muss der Frage nachgegangen werden, wie das Lesen bzw.
Lesestile im Chinesischunterricht vermittelt werden können. Im
Folgenden beziehen wir uns nicht nur auf eigene Erfahrungen im
Fremdsprachenunterricht, sondern auch auf diejenigen von Janzen
(2002), die in ihrem Artikel "Teaching Strategic Reading"
ausführlich die Grundlagen für das Lesen im Unterricht darlegt.
Der
traditionelle Leseunterricht verläuft oft wie hier in Kapitel 1
beschrieben: Der Lehrende liest den Text vor, erklärt dann neue
Wörter und fordert die Studierenden anschließend dazu auf, den Text
noch einmal - sei es zu Hause oder in der Klasse - zu lesen und dazu
einige mehr oder weniger interessante Fragen zu beantworten. Diesem
Ansatz stellt Janzen ihren eigenen gegenüber, der vor allem
Lesestrategien vermittelt. Wir teilen ihren Ansatz. Im Mittelpunkt
dieser Methode steht der Umgang mit Lesestrategien. Dieser ist mit
dem pädagogischen Ziel verbunden, die Studierenden zu eigenständigen
und autonomen Lesern - auch ganz im Sinne von Buhlman & Fearns,
2000: 235ff) - zu erziehen.
Der
Unterricht kann laut Janzen (2002: 289) in fünf Teilschritte
unterteilt werden:
- prinzipielle Diskussion zu Lesestrategien,
- Lernen am Modell des Lehrenden,
- Lesen des Textes oder der Txte durch die Studierenden,
- Analyse der verwendeten Lesestrategien,
- regelmäßiges Besprechen der individuellen Lesestrategie.
In
der ersten Phase versuchen die Lehrenden im Unterrichtsgespräch zu
erfahren, welche Lesestrategien die Studierenden bereits kennen und
anwenden. Die Lehrenden können ebenfalls unbekannte Strategien
vorstellen. Nachdem die verschiedenen Strategien schriftlich
gesammelt wurden, müssen diese geordnet werden. Damit soll erreicht
werden, Strategien zu identifizieren, die helfen, das Leseverstehen
zu verbessern und die Lese-Effizienz zu erhöhen. Durch das Erkennen
der Strategien erfahren die Studierenden, wie erfahrene Leser Texte
rezipieren. Diese Kenntnisse ermöglichen es den Lesern im Endeffekt,
die gelesenen Textinhalte aktiv in ihren jeweiligen Wissensbestand zu
integrieren. Dabei können die Studierenden ihr eigenes
Textverständnis überwachen und dieses mit ihrem allgemeinen oder
fachspezifischen Vorwissen verbinden (Janzen 2002: 289).
Dieses
theoretische Wissen um Lesestrategien reicht jedoch nicht aus. In der
zweiten Phase sollten die Lehrenden den Studierenden den Leseprozess
durch lautes Vorlesen und lautes Mitdenken vormachen. Dies kann
einsprachig oder auch zweisprachig geschehen. Hierbei können die
Studierenden beobachten, wie verschiedene Strategien beim Lesen
angewendet werden, z. B. Fragen stellen, Vorhersagen
treffen, diese Vorhersagen überprüfen,
zusammenfassen oder paraphrasieren (Janzen 2002: 289).
In
der dritten Phase sollten die Studierenden nun selbst den Text lesen
und laut mitdenken, um ihre Lesestrategien und somit ihre
Lesefertigkeit zu trainieren. Dies wird natürlich nicht auf Anhieb
funktionieren. Aber mit durch regelmäßiges Training und
entsprechende Wiederholung im Unterricht werden diese Lesestrategien
immer weiter verbessert und folglich damit auch die Lesefertigkeit
gesteigert.
In
der vierten Phase müssen dann die verwendeten Strategien
zusammengetragen und analysiert werden. Ziel dieser Phase ist es,
einen Katalog von Lesestrategien zu erstellen. Hier sollte überlegt
werden, wann welche Strategien eingesetzt werden und warum (Janzen
2002: 290ff).
Die
von Janzen geforderte fünfte Phase - die regelmäßige Besprechung
individueller Lesestrategien - muss u. E. nicht im Unterricht
geschehen, sondern kann in Partner- oder Gruppenarbeit auch außerhalb
des Unterrichts durchgeführt werden. Allerdings sollten die
Lehrenden regelmäßig auf die individuellen Lesestrategien der
Studierenden eingehen, diese hinterfragen und ggf. kommentieren.
Die
Frage, ob und in welcher Phase die Erklärung neuer Wörter oder
grammatischer Strukturen stattfinden soll, ist in diesem Zusammenhang
ebenfalls zu bedenken. Bei den oben dargestellten fünf Phasen
handelt es sich ausschließlich um die Vermittlung von Lesekompetenz.
Wortschatzvermittlung, Grammatikvermittlung und die Vermittlung von
Lesekompetenz werden im Chinesischunterricht oft als ein und derselbe
Schritt betrachtet. Es erweist sich allerdings von Vorteil, wenn
diese zu vermittelnden Kompetenzen getrennt voneinander unterrichtet
werden.
5.1
Methodische Vorgehensweise zum Texterschließen im Unterricht
Der
Prozess des Lesens gleicht eingangs einer Kombination von
orientierendem und suchendem Lesen. Abschließend erst erfolgt das
totale Lesen, bei dem versucht wird, mit Hilfe von Vorwissen und
intelligentem Schlussfolgern möglichst viele Textinformationen zu
erschließen. Bei Wagner (2007: 86) findet sich dafür eine
hinlänglich bekannte Vorgehensweise in fünf Schritten. Jeder
Schritt in diesem Prozess ist mit der Beantwortung verschiedener
Fragen verbunden. Es muss hierbei hervorgehoben werden, dass sich das
Wissen über die Sprachstruktur der Fremdsprache additiv
mit jedem weiteren gelesenen Text erweitert. Die zu jeder Phase
aufgeführten Fragen helfen sowohl bei der inhaltlichen Arbeit als
auch bei der Reflexion über den Leseprozess.
5.2
Texteinstieg und Vorentlastung
Im Rahmen unserer
Überlegungen zu Texteinstieg und Vorentlastung gehen wir von
zentralen Leitfragen aus.
Um welche Textsorte
handelt es sich bei dem vorliegenden Text?
Aufgrund
typographischer und anderer visueller Hinweise lässt sich oft
feststellen, um welche Textsorte es sich handelt (z.B.
Zeitungsartikel, wissenschaftlicher Text)
Welche
Informationen kann ich aus der Überschrift entnehmen? Gibt es darin
Eigennamen oder Internationalismen, die eine Eingrenzung der Thematik
zulassen?
Anhand
dieser Leitfrage lassen sich erste Informationen über den Textinhalt
erkennen, die eine Einordnung in einen mentalen Zusammenhang
ermöglichen.
Welches
Thema wird in dem Text diskutiert? - Welches Vorwissen habe ich dazu?
Die
Studierenden sollen an dieser Stelle das Textthema exakt formulieren.
Eine Verbalisierung - sei es mündlicher oder schriftlicher Art -
ermöglicht es ihnen, das Thema genau einzugrenzen und
ihr
Vorwissen dazu einzuschätzen. In
diesem Schritt kann das gesamte Vorwissen zu dieser Thematik
gesammelt und gegebenenfalls in Form einer mind
map systematisiert werden.
Für
den Chinesischunterricht bietet es sich an, das Vorwissen durch einen
Text in der L1 der Studierenden zu aktivieren. Dabei sollte darauf
geachtet werden, dass es sich nicht um eine Übersetzung des zu
bearbeitenden deutschen Textes handelt. Idealerweise sollte der
chinesische Text Wissen anbieten, welches über das des L1-Textes
hinausgeht.
Welche
Informationen kann ich aus Illustrationen und anderen visuellen
Elementen erschließen?
Dieser
Arbeitsschritt ist bei geistes- und sozialwissenschaftlichen
Fachtexten in der Regel nicht generell durchführbar, da diese - ganz
im Gegensatz zu naturwissenschaftlichen oder technischen Fachtexten -
seltener mit Illustrationen oder Tabellen versehen sind. Sind jedoch
Illustrationen oder bildliche Darstellungen im Text vorhanden, so
sollten diese zur Vorentlastung des Textinhalts herangezogen werden.
Die Textgliederung lässt sich beispielsweise anhand typo- oder auch
topographischer Mittel erkennen, was jedoch nur bedingt Vorhersagen
zum Textinhalt zulässt.
Welche
Informationen erwarte ich?
Anhand
der Überschrift, des Vorwissens und gegebenenfalls der
Illustrationen können die Studierenden ihre Erwartungshaltungen an
den Text formulieren. In diesem Schritt geht es vor allem darum, eine
Leseabsicht aufzubauen, mit deren Hilfe sich die Leser dem Text
nähern. Dafür müssen für die Lektüre klar definierte Ziele
vorgegeben werden. Dies kann dadurch erreicht werden, dass die
Lehrenden genaue Aufgabenstellungen vorbereiten und diese von den
Studierenden vor der Textlektüre gelesen und verstanden werden. Im
Sinne des lernerzentrierten Unterrichts können die Studierenden dies
jedoch auch in Eigenregie bewältigen. Dazu bieten sich alle
grundlegenden Sozialformen an: Einzel-, Partner- oder Gruppenarbeit.
Als
Folge der dadurch hergestellten Leseabsicht werden die Leser sich
nicht im totalen Lesen verlieren, sondern sie werden den Mut dazu
aufbringen, über Unverstandenes hinwegzugehen und sich zielgerichtet
an dem zu orientieren, was sie verstanden haben. Dadurch wird von
Anfang an ein Leseziel etabliert, und es findet eine gewisse
Annäherung an das Lesen in der Muttersprache statt, "das auch
immer unter einer - allerdings selbstbestimmten - Zielsetzung steht"
(Buhlmann & Fearns 2000: 244).
Welche
Wörter und Fachbegriffe können erwartet werden?
In
dieser Phase bietet es sich an, erwartete Fachbegriffe, Wörter und
Wortgruppen zwecks Vorentlastung zu sammeln, zu klären und zu
systematisieren. Mithilfe dieses Vorgehens werden die
Erwartungshaltungen noch einmal bestätigt bzw. modifiziert. Zudem
erleichtert die Kenntnis der Fachlexik die erste Gesamtlektüre.
5.3
Lektürephasen
5.3.1
Erste Gesamtlektüre
Auch
der vorliegende Abschnitt sollen anhand einer grundlegenden Leitfrage gestaltet sein.
Welche
Textinhalte bzw. Textstellen habe ich verstanden?
In
dieser Arbeitsphase sollte der gesamte Text relativ zügig gelesen
werden - idealerweise von gleichzeitigem Hören begleitet. Dies
akustische Komponente kann dabei durch die Lehrenden oder durch eine
Tonaufnahme realisiert werden. Die phonologische Präsentation hilft
schwächeren Lernenden und ist generell bei schwierigen Textvorlagen
empfehlenswert. Dies hängt mit der bewussten Verarbeitung im
Arbeitsgedächtnis zusammen, in dem die Informationen für einen
kurzen Zeitraum bereitgehalten werden müssen, um ein Textverständnis
zu ermöglichen (s.o. und Lutjeharms 2011: 977f). Das eigentliche
Ziel dieser Arbeitsphase ist die Dekodierung des Gesamtzusammenhangs.
Nach der ersten Lektüre sollten die Studierenden sich über die
verstandenen Textstellen austauschen. Durch eine Bewusstmachung des
Verstehens wird gleichzeitig ein Antizipieren der nicht verstandenen
Textstellen ermöglicht. Erst bei der zweiten Gesamtlektüre sollen
die Textstellen bearbeitet werden, die nicht verstanden wurden.
5.3.2
Zweite Gesamtlektüre
Die
für diese Phase identifizierbare Leitfrage ist die folgende:
Welche
Textstellen habe ich aufgrund fehlenden Wissens nicht verstanden?
Es
geht hier nicht nur darum, diese Textstellen zu identifizieren,
sondern auch darum zu überlegen, warum das Verständnis
beeinträchtigt wurde. Dies kann an syntaktischen bzw.
morpho-syntaktischen Problemen, aber auch an lexikalischen
Schwierigkeiten liegen. Die Studierenden sollten an dieser Stelle
ihre Probleme selbst identifizieren. Diese können anschließend
gesammelt und erklärt werden. Durch langjährige Berufserfahrungen
haben wir die Erfahrung gemacht, dass Studierende in der Regel diese
Probleme selbst lösen können, wenn sie in der Lage sind, sie zu
identifizieren. Dies kann unter andrem mithilfe von Leitfragen
seitens der Lehrenden geschehen.
5.3.3
Dritte Gesamtlektüre
Für
diese Phase ergibt sich die folgende Leitfrage:
Habe
ich den Text in seiner Gesamtheit verstanden? - Wurden meine
Erwartungen (Hypothesen) erfüllt?
Bei
der dritten Gesamtlektüre soll noch einmal das gesamte
Textverständnis überprüft werden. Dabei soll das neu erworbene
inhaltliche Wissen mit den Erwartungen, die am Anfang des Textlektüre
formuliert wurden, abgeglichen werden.
Es
empfiehlt sich, die Erwartungen an den Text zu Beginn der ersten
Phase schriftlich zu fixieren, um nunmehr eine Überprüfung dieser
zu ermöglichen. Nun müssen die Lernenden entscheiden, ob ihre
Erwartungen durch die Textlektüre erfüllt werden konnten.
In
einem letzten Teilschritt sollte noch kontrolliert werden, ob der
Text in sprachsystemischer Hinsicht verstanden wurde - Dies
allerdings immer unter der Bedingung, inwieweit dies für das
Textverständnis notwendig ist. Die Studierenden können sich selbst
die folgenden Unterfragen stellen: Was
habe ich nicht verstanden? Sind die nicht-verstandenen Elemente für
das Textverständnis wichtig? Die
Lehrenden sollten abschließend Möglichkeiten dafür aufzeigen,
diese sprachsystematischen Wissenslücken zu füllen.
6 Die Einübung des Leseverstehen während des Unterrichts und nach
dem Unterricht
Buhlmann
& Fearns führen in ihrem Handbuch des Fachsprachenunterrichts
eine große Anzahl von Übungen auf, die zur Vermittlung
fachsprachlicher Lesekompetenz in den Unterricht integriert werden
können (Buhlmann & Fearns 2000: 238ff). Diese Übungen wurden
vor allem mit Blick auf den naturwissenschaftlichen oder technischen
Fachsprachenunterricht zusammengestellt. Solche Übungsformen sind
natürlich nicht neu; sie werden seit langem im
Fremdsprachenunterricht angewendet.
Die
hier vorgestellten Übungen können einsprachig oder auch
mehrsprachig durchgeführt werden. Der Vorteil der zweisprachigen
Vermittlung ist die Rationalisierung des Unterrichts. In der Regel
bietet sich die Muttersprache der Studierenden an, unter Umständen
kann man auch auf das Englische als Brückensprache zurückgreifen.
An dieser Stelle sei nochmals darauf hingewiesen, dass die
Informationseinheit in einer Sprache nicht etwa das Wort,
sondern der gesamte Text ist. Erst im gesamten Text wird die
Kommunikationsabsicht erkennbar.
Im
Einzelnen sind zur Einübung des Leseverstehens die folgenden Übungen
vorstellbar.
6.1
Übungen zu Text- und Satzinformationen
a) Unterstreichen von
graphisch Hervorgehobenem, Zahlen, Symbolen, Ortsnamen,
Namensangaben.
Dies sind die
Kerninformationen im Text (Buhlmann & Fearns 2000: 245). In fast
allen Texten kommen diese Informationen vor, die eine situative
Einbettung erlauben.
b) Betrachtung
und Besprechung von Skizzen, Abbildungen, Tabelle, o.ä.
Idealerweise
wird auch hierbei das Textvorverständnis mit Hilfe visualisierter
Kerninformationen vorentlastet und dient der situativen Einbettung.
Gegebenenfalls müssen vorab von Seiten der Lehrenden Hilfestellungen
- z.B. spezifische kulturelle Hinweise - zur Dekodierung der
Visualisierungen gegeben werden (vgl. dazu Merkelbach 2013).
6.2
Übungen zur Entwicklung der Lesestile
6.2.1 Übungen zum
orientierenden Lesen
a)
Gezielt Antworten auf Fragen suchen.
Das Verständnis der
Fragen muss allerdings vorher gesichert sein. Auch geht es hierbei um
Fragestellungen, die nicht dazu verleiten sollen, Einzelheiten aus
dem Text herauszusuchen.
b) Anhand von
Inhaltsverzeichnis, Überschriften, oder
Ähnlichem konkret
entscheiden, ob der
zu lesende Text dem Leseinteresse entspricht.
Gegebenenfalls kann der
zu lesende Text dann auch beiseite gelegt werden, und die
Studierenden können dazu aufgefordert werden, solche Texte
einzubringen, die ihrem Interessensgebiet entsprechen.
6.2.2 Übungen zum
suchenden Lesen
a)
Ein Flussdiagramm erstellen.
Ein solches Flussdiagramm
kann bereits graphisch vom Lehrenden vorbereitet worden sein, und die
Studierenden müssen es in der L1 oder L2 ausfüllen. Schaltstellen
sollten durch entsprechende Symbole oder durch entsprechende Hinweise
in der L1 oder der L2 kenntlich gemacht werden.
b)
Textvergleiche mit Paralelltexten in der L1 oder L2 oder L3
erstellen.
Diese Übung hilft den
Studierenden unmittelbar, ihre bei der Lektüre aufgestellten
Hypothesen zu überprüfen, verleitet sie jedoch auf Dauer dazu, sich
auf den Paralleltext zu verlassen und den eigentlichen Text nicht
mehr (aufmerksam) zu lesen.
c)
Multiple-Choice-Fragen, deren Antworten ja bereits vorgegeben sind,
mit Hilfe des Textes bearbeiten lassen.
Allerdings sollten die
Antworten sich nicht in irreführenden Kleinigkeiten, sondern
hinsichtlich bedeutungstragender Aspekte unterscheiden.
d)
Ausformulierte Fragen beantworten lassen.
Dabei entsteht jedoch oft
das Problem, dass sich die Lernenden nicht in der Lage sehen, diese
in der L2 zu beantworten. Ihnen sollte freigestellt werden, dass sie
dies auch in der L1 tun können, da es hier um das Leseverstehen und
nicht um die Schreibfertigkeit in der Fremdsprache geht.
e)
SQRRR – Survey-Question-Read-Recite-Review
Das ist wohl
einer der bekanntesten Methoden zum suchenden Lesen. Sie basiert auf
der Idee von Robinson (1970). Man kann hier in fünf Schritten
vorgehen:
- S wie Survey: Die Lesenden schaffen sich zunächst einen Überblick mit Hilfe von Überschriften, Fotos oder Grafiken.
- Q wie Question: Ehe die Leser den Text rezipieren, sollten sie die Fragen sammeln, von denen sie hoffen, dass der Text sie beantworten kann.
- R wie Read: In dieser Phase gehen die Leser den Text aufmerksam durch. Die Geschwindigkeit des Rezeptionsprozesses wird durch die Zielsetzung, das Interesse und den Schwierigkeitsgrad gesteuert.
- R wie Recite: In diesem Schritt sollen die Leser sich an das Gelesene erinnern. Dies kann durch ein Gespräch mit den Tischnachbarn oder durch stichwortartige Aufzeichnungen geschehen.
- R wie Review: In der letzten Phase wird der Text noch einmal gelesen, dabei überprüfen die Leser ihr Textverständnis.
6.2.3 Übungen zum
kursorischen Lesen
a)
Zuordnung von Stichpunkten zu passenden Textteilen / Absätzen
Diese
Stichpunkte werden vor der Textlektüre von den Lehrenden zur
Verfügung gestellt. Es ist aber zu beachten, dass die Bedeutung der
jeweiligen Stichpunkte bekannt ist bzw. im Vorfeld geklärt wird.
b)
Erstellen eines Flussdiagrammes durch die Studierenden
Dies
geschieht in dieser Phase ohne graphische Vorbereitung seitens
des Lehrenden.
c)
Einteilen des Textes in Textabschnitte
Diese Aufgabe
eignet sich für bereits fortgeschrittene Lerner. Dabei werden mit
Hilfe eines Wortverarbeitungsprogramms vor der Lektüre die einzelnen
Absätze im Text entfernt. Die Lernenden sollen diese dann wieder
erstellen.
d)
Wiederherstellen von Textlogik.
Der gesamte Text wird
zunächst in größere Abschnitte zergliedert und an die Studierenden
ausgeteilt. Diese müssen den Text nun in seiner logischen
Reihenfolge rekonstruieren. Diese Textarbeit kann gut in Kleingruppen
durchgeführt werden. Anschließend müssen die einzelnen Gruppen
ihre Zuordnung argumentativ begründen.
e)
Heraussuchen von Stichpunkten zum Text.
Dabei muss allerdings
klar sein, was denn unter 'Stichpunkten' gemeint ist. Oft schreiben
die Studierenden lediglich unbekannte Wörter oder Wortgruppen
heraus, denn sie orientieren sich nicht inhaltlich am Text, sondern
gehen eher ihren fremdsprachlichen Problemen nach.
6.2.4 Übungen zum
totalen Lesen
Methodisch
hat es sich als sinnvoll erwiesen, dem totalen Lesen das suchende
Lesen mithilfe von SQRRR (vgl. Kap. 6.3.2) vorzuschalten. So können
die an den Text geweckten Erwartungen der Studierenden genutzt
werden. Nach SQRRR ergeben sich folgende Übungen zum totalen Lesen:
a)
Vergleich zwischen zielsprachlichem und ausgangssprachlichem Text.
Dabei sollen die
Studierenden die Unterschiede in beiden Texten herausarbeiten und
anschließend kritisch analysieren. Dabei geht es vor allem darum,
ob beide Texte identisch sind, oder ob es durch die Übersetzung zu
inhaltlichen Verschiebungen kommt.
b)
Notieren von Stichpunkten.
Diese Stichpunkte dienen
der Erstellung eines Paralleltextes.
c) Übertragung von
Begriffen in einen Lückentext (Paralleltext), der bereits von den Lehrenden vorbereitet
wurde.
Diese Arbeit kann bei
fortgeschrittenen Lernenden auch von diesen übernommen werden. Nach
der Übertragung von Begriffen in den Lückentext müssen diese
Paralleltexte jedoch gemeinsam oder in Gruppenarbeit auf ihre
Referenzidentität überprüft werden.
d)
Ausfüllen von Flussdiagrammen.
Hier
gelten entsprechend die in Kap. 6.3.2 und 6.3.3 gemachten Aussagen.
e)
Erstellung einer Vergleichstabelle in L1 und Chinesisch.
Um
das Arbeitsgedächtnis vor allem bei längeren Texten zu entlasten,
bietet es sich an, die Textinhalte stichwort- oder phrasenartig in
einer Vergleichstabelle in der L1 und auf Chinesisch
niederzuschreiben. Dies schafft neue Ressourcen für den weiteren
Leseprozess und ermöglicht es, die bereits verstandenen Inhalte für
die weitere Lektüre nutzbar zu machen.
f)
Textvergleich mit einem Paralleltext.
Ein
Paralleltext ist eine vereinfachte Form des Ursprungstextes, der
sich auf die groben Inhalte beschränkt. Es hat sich in der
Unterrichtspraxis herausgestellt, dass Leser einen Paralleltext oft
schnell zu Orientierung erfassen können und dann (für sie)
wichtige oder weiterführende Informationen - z.B. Attribuierungen -
für das totale Textverständnis gezielter aufnehmen können.
g)
Einteilung / Untergliederung in Absätze.
Hierbei werden alle
Absätze aus dem Text mit Hilfe eines Textverarbeitungsprogramms
entfernt. Die Studierenden sollen diese wieder einfügen. Die
Kontrolle kann entweder gemeinsam in der Gruppe stattfinden oder
durch Softwareprogramme geleistet werden.
h)
Rekonstruktion des Textes aus Einzelteilen des Textes.
Im Vergleich zu oben
(vgl.
Kap. 6.3.3; Wiederherstellen von Textlogik)
werden hier
nicht einzelne Textabschnitte vorgegeben, sondern der gesamte Text
wird willkürlich in kleinste Textteile geschnitten und verteilt.
Zunächst müssen die Studierenden die einzelnen Textabschnitte
rekonstruieren, um dann abschließend den gesamten Text
zusammenzustellen.
6.2.5 Übungen zum
argumentativen Lesen
Argumentatives
Lesen ist im Unterricht sehr schwer zu üben. Es erfordert einen
ständigen Gedankenaustausch zwischen den Studierenden. Wichtig ist
es hierbei, die Inhalte des Textes mit Wissen und Sachverhalten, die
nicht innerhalb des Textes erwähnt werden, in Verbindung zu bringen.
Folgende Methoden bieten sich dafür an:
a) Verknüpfung des
Gelesenen mit Hilfe eines Assoziogramms mit anderen Texten und
Sachverhalten, die zum allgemeinen oder speziellen Fachwissen
gehören.
Dafür bietet sich die
Arbeit mit Computern oder in Bibliotheken an, damit ein ständiger
Zugriff auf dieses Material gewährleistet ist. Bei dieser
Arbeitsform treten die Lehrenden weit in den Hintergrund, sie können
gegebenenfalls als Moderatoren Hilfestellungen leisten.
b) Die Übertragung
eines Textes in eine logische Symbolstruktur mit Hilfe verschiedener
Symbole.
Dies setzt allerdings
die Kenntnis von Logiksprachen seitens aller Beteiligten voraus und
geht weit über die eigentliche Funktion des
Fremdsprachenunterrichts hinaus.
7 Schlussbemerkungen
Der
Vermittlung von Lesefertigkeiten muss - gerade bei Lernenden, die aus
wissenschaftlichen Gründen Chinesisch lernen - u. E. mehr Raum
im Unterricht eingeräumt werden. Eine Verkürzung des kommunikativen
Ansatzes auf die Mündlichkeit ist für diese Gruppe nicht
hinreichend. In gängigen Lehrbüchern wird sehr auf die Mündlichkeit
geachtet, die für kurze Auslandaufenthalte unbestritten und
notwendigerweise im Vordergrund steht. Aber es sollte auch die
Vermittlung von Lesefertigkeiten schon zu einem recht frühen
Zeitpunkt betont werden, um das Chinesische als - eine unter mehreren
- Wissenschaftssprachen zu fördern, denn gerade das Internet hat ja
die Rezeption von Texten wieder ins Zentrum des Interesses gerückt.
Zu
hoffen, dass die Lernenden ihre Lesefertigkeiten gleichsam
automatisch erlernen, hat sich in der Praxis als nicht realistisch
herausgestellt. Von den gängigen Lehrwerken werden die Lehrenden und
Lernenden in dieser Hinsicht allein gelassen. Der vorliegende Beitrag
versucht, diese Lücke sowohl aus theoretischer Sicht als auch aus
didaktischer Sicht zu schließen.
Abschließend
sei angemerkt, dass eine empirisch valide Überprüfung der
Vermittlung der Lesefertigkeit des Chinesischen als Fremdsprache
derzeit noch aussteht. Dies ist u. a. auch auf das Fehlen valider
Methoden zu deren Erforschung zurückzuführen.
Bibliographie
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Autor:
Prof.
Dr. Chris Merkelbach
Associate
Professor
National
Taiwan University
Department
of Foreign Languages and Literature
1,
Roosevelt Road, Sec 4
106
Taipei City, Taiwan, R.O.C.
E-Mail:
chrismtw@ntu.edu.tw
1
Ähnliche
Klagen hört man übrigens auch von chinesischsprachigen
Studierenden, wenn sie fremdsprachige Texte lesen sollen.
2
Es wurden zum
Jahreswechsel 2012/2013 im Zuge eines Evaluationsprozesses des
Unterrichts Chinesisch
als Fremdsprache
14 Interviews als Pilotstudie an der National Taiwan University
durchgeführt. Die Studierenden wurden von uns zu ihren Erfahrungen
hinsichtlich der Vermittlung der vier Sprachkompetenzen im
Unterricht im Heimatland und in Taiwan befragt.