Volume 5 (2014) Issue 1
Zofia
Bilut-Homplewicz: Prinzip Perspektivierung. Germanistische und
polonistische Textlinguistik – Entwicklungen, Probleme, Desiderata.
Frankfurt/M.: Lang 2013 (= Danziger Beiträge zur Germanistik,
Bd. 43). 227 Seiten (ISBN 978-3-631-64577-2)
Die
hier zu besprechende Schrift nimmt in wenigstens zweifacher Hinsicht
eine Sonderrolle ein: Zum einen geht es nicht um die konkrete Analyse
oder Beschreibung eines wie auch immer dimensionierten
sprachwissenschaftlichen Gegenstands, sondern um eine weitgespannte
Überblicksdarstellung, und zwar zur Entwicklung der Text- und
Diskurslinguistik in Deutschland. Zum andern handelt es sich um den
ersten Teil eines umfassenderen Projekts: eines weiter
fortzusetzenden Vergleichs, der, wie die Autorin es nennt, der
„interlinguistischen Kontrastivität“ (10) entnommen ist.1
Darüber
hinaus ist die vorliegende Arbeit vor dem Hintergrund einer
besonderen wissenschaftlichen bzw. forschungsgeschichtlichen
Tradition zu sehen: Seit der 1980 erschienenen textwissenschaftlichen
Einführung von Zdzisław Wawrzyniak hat sich die Germanistik der
Universität Rzeszów auf dem Gebiet der Text- und Diskursforschung
einen Namen gemacht, dies auch über die Landesgrenzen hinaus. Zu
nennen wären in dem Zusammenhang nicht nur zahlreiche einschlägige
Publikationen, sondern ebenso die Gründung einer eigenen
Forschergruppe, die unter der Leitung von Zofia Bilut-Homplewicz
die internationalen und interdisziplinären Aktivitäten zur Text-,
Diskurs- und Kommunikationsanalyse4
fördern soll, die Herausgabe einer Buchreihe unter dem Titel Studien
zur Text- und Diskursforschung
(initiiert von Z. Berdychowska, Z. Bilut-Homplewicz) und die
Beteiligung an der Fachzeitschrift tekst
i dyskurs – Text und Diskurs
(herausgegeben von Z. Bilut-Homplewicz, W. Czachur). Ein
zentrales Anliegen, das sich wie ein roter Faden durch alle
Bemühungen zieht, besteht darin, die Verbindung zwischen den
einzelnen Philologien zu stärken (vgl. in diesem Sinne bereits
Bilut-Homplewicz 1999) und speziell den grenzüberschreitenden
Wissenstransfer auszubauen, letzteres u.a. durch die Übersetzung
wichtiger Fachbeiträge (vgl. z.B. Bilut-Homplewicz et al. 2009).
Und
genau dieser Zielsetzung hat sich auch die jüngste Publikation von
Zofia Bilut-Homplewicz verschrieben. Im Mittelpunkt dieses (ersten)
Bandes steht die germanistische Textlinguistik; die Darstellung der
polonistischen Seite ist für den zweiten Band vorgesehen.
In
einem relativ knappen Einleitungs-Kapitel
(7-17) klärt die Verfasserin zunächst einige leitende Begriffe –
beispielsweise die Prinzipien Perspektivierung,
Kontrastierung
oder die Unterscheidung von interlingual,
intertextuell,
interlinguistisch
– und skizziert die wichtigsten Etappen, Positionen und Arbeiten
der polnischen Textlinguistik. In den folgenden Hauptkapiteln geht es
dann primär um Schwerpunkte und Tendenzen der germanistischen
Textlinguistik in den deutschsprachigen Ländern. Die Darstellung
gliedert sich in folgende Abschnitte:
- Anfänge und Entwicklungen der germanistischen Textlinguistik (19-62)
- Grundlagen und Entwicklungen der germanistischen Textsortenlinguistik (63-109)
- Kontrastive Textologie – eine germanistische „Spezialität“? (111-145)
- Textlinguistik vs. Diskurslinguistik / linguistische Diskursforschung aus germanistischer Perspektive (147-200)
Im
ersten Abschnitt - Anfänge
und Entwicklungen der germanistischen Textlinguistik
(19-62)
- rekapituliert die Verfasserin noch einmal die Anfänge
der Textlinguistik
und die Entwicklung, die sie seit den 1960er Jahren genommen hat.
Betont wird dabei die starke Auffächerung der Disziplin, in der ganz
unterschiedliche methodische Herangehensweisen zusammenlaufen können
und die umgekehrt aber oft auch zum Ausgangspunkt für recht
verschiedene Ansätze wird. Die Vielfalt der Textlinguistik zeigt
sich im übrigen bereits, wenn man die einzelnen Etappen oder Phasen
nachzeichnet. Es erscheint durchaus plausibel, wenn pragmatische und
kognitive Aspekte in dem Überblick eine besondere Berücksichtigung
erfahren. Als exemplarisch für eine handlungsorientierte
Textbetrachtung wird (im Unterschied zur polonistischen
Textlinguistik) ausschließlich die Sprechakttheorie angeführt
(31ff). Der dazu vorgetragenen Kritik ist zweifellos zuzustimmen.2
Nur hat es neben der Sprechakttheorie auch andere
handlungstheoretisch begründete Ansätze gegeben;
stellvertretend seien hier lediglich die bei Heringer (1974), Sandig
(1978) und von Polenz (1985) vorgeschlagenen Konzepte erwähnt. Diese
hätten der vorgenommenen Bewertung möglicherweise eine andere
Richtung gegeben.
Recht
ausführlich und überzeugend äußert sich die Verfasserin zur
Textualität und zu den verschiedenen Textbegriffen (39ff). Gerade
weil auch neuere und neueste Arbeiten einbezogen werden, gelingt es,
die zunehmende Komplexität des Forschungsobjekts Text
- speziell
die Multikodalität und die Abhängigkeit von neuen Formen der
Medialität - anschaulich zu machen. Eine allgemeingültige
Definition des Textbegriffs sei aufgrund solcher Entwicklungen auch
obsolet geworden. Abschließend wird die Frage aufgeworfen, ob der
Text überhaupt noch als Bindeglied zwischen Sprach- und
Literaturwissenschaft in Frage komme und inwieweit die Textlinguistik
als eine Art Brücken-Disziplin fungieren könne – eine Frage, auf
die es angesichts der relativ starken Orientierung an
Gebrauchstexten, zumindest auf deutscher Seite, keine einfache
Antwort geben dürfte.
Der
zweite Abschnitt - Grundlagen
und Entwicklungen der germanistischen Textsortenlinguistik
(63-109) - ist ganz der Textsortenlinguistik
gewidmet. Es herrscht ein breiter Konsens insofern, als Textsorten
- nach bestimmten, in einer Kommunikationsgemeinschaft etablierten Mustern realisiert werden,
- sich als Mittel zur Lösung rekurrenter Probleme historisch herausgebildet (und bewährt) haben,
- eine mehr oder weniger starke kulturelle Geprägtheit aufweisen,
- somit einem ständigen Wandel unterworfen sein können und
- sich in der konkreten Anwendung den gegebenen situativen Erfordernissen oder auch sprachstilistischen Intentionen anpassen lassen.
Die
Verfasserin beschränkt sich nicht darauf, die diversen
Klassifikationsansätze Revue passieren zu lassen, sondern wählt
eine Darstellungsweise, die immer auch die betreffenden
Auseinandersetzungen (und nicht selten kontroversen Positionen) zur
Sprache bringt und so die Leser in die jeweiligen Argumentation mit
einbezieht. Zu begrüßen ist weiterhin die Ausführlichkeit, mit der
neuere Tendenzen der Textgestaltung und der Text(sorten)verwendung
behandelt werden. Es erscheint zunehmend unangemessen, das Augenmerk
allein auf Einzeltexte zu richten; die Textrealität macht es
vielmehr erforderlich, der Einbettung in größere Zusammenhänge, in
Textsortennetze oder -felder, Rechnung zu tragen und ebenso die
Möglichkeiten multikodaler (bzw. multimodaler) Beitragspräsentation
gebührend einzubeziehen. All dies deutet offenkundig auf eine
Neubestimmung des Untersuchungsobjekts der Textlinguistik hin:
So oder so scheint der Text heute den Status eines Hyperonyms, d.h. des größten Untersuchungsgegenstandes der Linguistik, zu verlieren. Schlüsselbegriffe sind jetzt Textnetze und Diskurse. Transphrastische Texte machen Platz für transtextuelle, also über die Grenze eines Einzeltextes hinausgehende Diskurse. Die ehemalige Textwelt wird zu eng, gilt heute als ein Mikrokosmos. Ins Spiel kommt ein diskursiver Makrokosmos. (Olszewska & Kątny 2013: 13)
Auf
diese Diskussion geht die Verfasserin ausführlich ein und
demonstriert anhand des Begriffs der Kontextualisierung
- dies auch unter Hinzuziehung eigener Arbeiten - wie vielfältig die
Textverbindungen ausfallen können und mit welchen Formen der
,Textsorten-Intertextualität‘ (104) zu rechnen ist. Diese Passagen
gehören ohne Frage zu den wichtigsten und anregendsten des Buches.
Ein
spezielles und sehr differenziertes Betätigungsfeld innerhalb der
Textlinguistik ist die sogenannte Kontrastive
Textologie;
mit ihr beschäftigt sich der dritte Abschnitt (111-145). Dargestellt
werden auch hier wichtige Entwicklungsphasen sowie zentrale
Problemstellungen. Die Verfasserin plädiert – in enger
Anlehnung an Arbeiten von Kirsten Adamzik – für eine möglichst
breit angelegte Forschung, die sowohl synchrone als auch diachrone
und kulturkontrastive Aspekte mit berücksichtigt. Zu Recht wird
außerdem betont, daß es vielfach nicht genügen kann, allein die
Kategorie Textsorte
als Vergleichsgröße zugrundezulegen:
Man kann nicht in jedem Fall von einer Eins-zu-eins-Entsprechung von Textsorten in verschiedenen Medien, Sprachen, Kulturen oder Kommunikationsgemeinschaften ausgehen, die Relationen sind hier manchmal viel komplexer und komplizierter. (130)
Insofern
komme es immer darauf an, den Stellenwert einer Textsorte in ihrem
Umfeld zu untersuchen und gegebenenfalls Textsortennetze (oder noch
größere Datenmengen) in den Blick zu nehmen.
Aus
polonistischer Sicht mag man durchaus der Meinung sein, bei der
Kontrastiven Textologie handle es sich um eine „germanistische
Spezialität“ (145); dies sollte jedoch nicht über die großen
Anteile anderer Philologien - gerade in der Anfangsphase, aber nicht
allein dort - hinwegtäuschen.
Es
ist nur folgerichtig, wenn die bisherigen Überlegungen im vierten
Abschnitt zu einem wiederum erweiterten Bereich führen, nämlich zur
linguistischen
Diskursforschung
(147-200). ,Diskurs‘ gehört bekanntlich zu den schillernden, sehr
vielfältig gebrauchten Begriffen, und die Frage, ob man die
Diskursforschung als Erweiterung der Textlinguistik auffassen kann,
erscheint keineswegs unberechtigt (vgl. dazu zuletzt Niehr 2014:
29ff). Die Verfasserin favorisiert hier eine Position, wonach der
Text eine Verankerung im Diskurs hat, die Partizipation am Diskurs
also gleichsam zu den textkonstitutiven Eigenschaften gehört (156).
Gleichwohl ist von divergierenden Ausrichtungen in der Diskursanalyse
auszugehen; man kann wenigstens grob zwischen textlinguistisch
orientierten und gesellschaftspolitisch orientierten Ansätzen
unterscheiden (160ff). In diesem Rahmen wird der Leser mit einem
breiten Spektrum unterschiedlicher Schulen und methodischer Ansätze
konfrontiert, verbunden mit zahlreichen einordnenden und wertenden
Hinweisen, die Fortschritte wie auch Grenzen aufzeigen und die
jeweils den Bezug zu textlinguistischen Prinzipien deutlich machen.
Die
abschließende Zusammenfassung (201-209) lenkt den Blick noch einmal
auf einige zentrale Diskussions- und Problempunkte sowie auf
Konsequenzen, die sich für die weitere Arbeit ergeben. U.a. geht es
um eine neue Auffassung von Textualität und eine Neubewertung
intertextueller und diskursiver Zusammenhänge, dies vor allem wegen
einer stark veränderten medialen Wirklichkeit. Unter diesem
Gesichtspunkt kommt speziell der Kontrastiven Medienlinguistik,
einschließlich diachroner und kulturspezifischer Aspekte, eine
erhöhte Bedeutung zu.3
Dem stehen auch internationalisierende Entwicklungen offenbar nicht
entgegen.
Trotz der Globalisierung als allgemeiner Tendenz scheinen genug Differenzen zwischen den Kulturen im interessierenden Bereich zu bestehen, auch geringe Unterschiede sind hier nicht zu unterschätzen. (206)
Insgesamt
betrachtet, hat Zofia Bilut-Homplewicz eine Arbeit vorgelegt, die
viele gelungene Synthesen enthält, die dabei aber die Konkretheit
der referierten Positionen und Methoden nie vernachlässigt. Ein weit
verzweigtes, nur noch schwer überschaubares Arbeitsfeld, zu dem
inzwischen zahllose Publikationen erschienen sind, wird geschickt
strukturiert und dem Rezipienten in einer gut lesbaren Form
nahegebracht. Sicher kann man gelegentlich darüber streiten, ob die
Auswahl der zitierten Autoren richtig, ob die Ausführlichkeit der
Wiedergabe bestimmter Textstellen angemessen ist, doch dürfte dies
das Instruktive der Überblicksdarstellung kaum in Frage stellen. Die
vorliegende Schrift ist nützlich für jeden, der sich über den
aktuellen Stand der germanistischen Text-, Textsorten- und
Diskurslinguistik informieren möchte.
Gleichzeitig
geht es um ein Buch, das den Wissenschaftsaustausch zwischen der
deutschen und der polnischen Textwissenschaft intensivieren soll. Und
ein solcher Austausch ist auch für die umgekehrte Transferrichtung
vorgesehen. Insofern darf man auf den zweiten Band schon jetzt
gespannt sein.
Bibliographie
Bilut-Homplewicz,
Zofia (Hrsg.) (1999): Zur
Mehrdimensionalität des Textes. Repräsentationsformen,
Kommunikationsbereiche, Handlungsfunktionen.
Rzeszów:
Wydawnictwo WSP.
Bilut-Homplewicz,
Zofia (2008): Prinzip Kontrastivität. Einige Anmerkungen zum
interlingualen, intertextuellen und interlinguistischen Vergleich.
In: Czachur, Waldemar & Czyżewska, Marta (Hrsg.): Vom
Wort zum Text. Studien zur deutschen Sprache und Kultur.
Festschrift Józef Wiktorowicz. Warschau: Instytut Germanistyki
Uniwersytetu Warszawskiego, 483-492.
Bilut-Homplewicz,
Zofia (2012): Kommentar als ,Pressegattung’. Zur Spezifik der
Presseforschung in Polen. In: Lenk, Hartmut E.H. & Vesalainen,
Marjo (Hrsg.): Persuasionsstile
in Europa.
Hildesheim: Olms, 93-113.
Bilut-Homplewicz,
Zofia, Czachur, Waldemar & Smykała, Marta (Hrsg.) (2009):
Lingwistyka
tekstu w
Niemczech.
Pojęcia,
problemy, perspektywy (antologia tłumaczeń).
Breslau:
Wydawnictwo Atut.
Heringer,
Hans Jürgen (1974): Praktische
Semantik.
Stuttgart: Klett.
Niehr,
Thomas (2014): Einführung
in die linguistische Diskursanalyse.
Darmstadt: WBG.
Olszewska,
Danuta / Kątny, Andrzej (2013): Vom Text zum Diskurs, genauer
gesagt: Vom Text zum Text im Diskurs. In:
Studia
Germanica Gedanensia
29, 9-22.
von
Polenz, Peter (1985): Deutsche
Satzsemantik. Grundbegriffe des Zwischen-den-Zeilen-Lesens.
Berlin,
New York: de Gruyter.
Sandig,
Barbara (1978): Stilistik.
Sprachpragmatische Grundlegung der Stilbeschreibung.
Berlin,
New York: de Gruyter.
Wawrzyniak,
Zdzisław (1980): Einführung
in die Textwissenschaft. Probleme der Textbildung im Deutschen.
Warschau: Państwowe Wydawnictwo Naukowe.
Rezensent:
Prof.
Dr. Heinz-Helmut Lüger
Zeppelinstraße
45
D-76887
Bad Bergzabern
E-Mail:
heinz-helmut.lueger@t-online.de
1
Zur Veranschaulichung und Erprobung des Konzepts sei hier vor allem
verwiesen auf Bilut-Homplewicz (2008) und (2012).
2
Als Ergänzung wäre ebenso die diesbezügliche Argumentation im
nachfolgenden Abschnitt (83ff) einzubeziehen.
3
Eine solche Tendenz ist ebenso an der großen Zahl einschlägiger
medienlinguistischer Arbeiten ablesbar (vgl die Bibliographie in:
http://www.kontrastive-medienlinguistik.net).
4
Weitere Einzelheiten werden ausgeführt in: Beiträge
zur Fremdsprachenvermittlung
50 (2011), 139-140, sowie auf der Internetseite:
http://www.tdk.univ.rzeszow.pl/de/?page_id=2.