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JLLT edited by Thomas Tinnefeld
Journal of Linguistics and Language Teaching
Volume 5 (2014) Issue 1



Zofia Bilut-Homplewicz: Prinzip Perspektivierung. Germanistische und polonistische Textlinguistik – Entwicklungen, Probleme, Desiderata. Frankfurt/M.: Lang 2013 (= Danziger Beiträge zur Germanistik, Bd. 43). 227 Seiten (ISBN 978-3-631-64577-2)

Die hier zu besprechende Schrift nimmt in wenigstens zweifacher Hinsicht eine Sonderrolle ein: Zum einen geht es nicht um die konkrete Analyse oder Beschreibung eines wie auch immer dimensionierten sprachwissenschaftlichen Gegenstands, sondern um eine weitgespannte Überblicksdarstellung, und zwar zur Entwicklung der Text- und Diskurslinguistik in Deutschland. Zum andern handelt es sich um den ersten Teil eines umfassenderen Projekts: eines weiter fortzusetzenden Vergleichs, der, wie die Autorin es nennt, der „interlinguistischen Kontrastivität“ (10) entnommen ist.1

Darüber hinaus ist die vorliegende Arbeit vor dem Hintergrund einer besonderen wissenschaftlichen bzw. forschungsgeschichtlichen Tradition zu sehen: Seit der 1980 erschienenen textwissenschaftlichen Einführung von Zdzisław Wawrzyniak hat sich die Germanistik der Universität Rzeszów auf dem Gebiet der Text- und Diskursforschung einen Namen gemacht, dies auch über die Landesgrenzen hinaus. Zu nennen wären in dem Zusammenhang nicht nur zahlreiche einschlägige Publikationen, sondern ebenso die Gründung einer eigenen Forschergruppe, die unter der Leitung von Zofia Bilut-Hom­plewicz die internationalen und interdisziplinären Aktivitäten zur Text-, Diskurs- und Kommunikationsanalyse4 fördern soll, die Herausgabe einer Buchreihe unter dem Titel Studien zur Text- und Diskursforschung (initiiert von Z. Berdychowska, Z. Bilut-Homple­wicz) und die Beteiligung an der Fachzeitschrift tekst i dyskurs – Text und Diskurs (her­ausgegeben von Z. Bilut-Homplewicz, W. Czachur). Ein zentrales Anliegen, das sich wie ein roter Faden durch alle Bemühungen zieht, besteht darin, die Verbindung zwischen den einzelnen Philologien zu stärken (vgl. in diesem Sinne bereits Bilut-Homple­wicz 1999) und speziell den grenzüberschreitenden Wissenstransfer auszubauen, letzteres u.a. durch die Übersetzung wichtiger Fachbeiträge (vgl. z.B. Bilut-Homplewicz et al. 2009).

Und genau dieser Zielsetzung hat sich auch die jüngste Publikation von Zofia Bilut-Homplewicz verschrieben. Im Mittelpunkt dieses (ersten) Bandes steht die germanistische Textlinguistik; die Darstellung der polonistischen Seite ist für den zweiten Band vorgesehen.

In einem relativ knappen Einleitungs-Kapitel (7-17) klärt die Verfasserin zunächst einige leitende Begriffe – beispielsweise die Prinzipien Perspektivierung, Kontrastierung oder die Unterscheidung von interlingual, intertextuell, interlinguistisch – und skizziert die wichtigsten Etappen, Positionen und Arbeiten der polnischen Textlinguistik. In den folgenden Hauptkapiteln geht es dann primär um Schwerpunkte und Tendenzen der germanistischen Textlinguistik in den deutschsprachigen Ländern. Die Darstellung gliedert sich in folgende Abschnitte:
  1. Anfänge und Entwicklungen der germanistischen Textlinguistik (19-62)
  2. Grundlagen und Entwicklungen der germanistischen Textsortenlinguistik (63-109)
  3. Kontrastive Textologie – eine germanistische „Spezialität“? (111-145)
  4. Textlinguistik vs. Diskurslinguistik / linguistische Diskursforschung aus germanistischer Perspektive (147-200)
Im ersten Abschnitt - Anfänge und Entwicklungen der germanistischen Textlinguistik (19-62) - rekapituliert die Verfasserin noch einmal die Anfänge der Textlinguistik und die Entwicklung, die sie seit den 1960er Jahren genommen hat. Betont wird dabei die starke Auffächerung der Disziplin, in der ganz unterschiedliche methodische Herangehensweisen zusammenlaufen können und die umgekehrt aber oft auch zum Ausgangspunkt für recht verschiedene Ansätze wird. Die Vielfalt der Textlinguistik zeigt sich im übrigen bereits, wenn man die einzelnen Etappen oder Phasen nachzeichnet. Es erscheint durchaus plausibel, wenn pragmatische und kognitive Aspekte in dem Überblick eine besondere Berücksichtigung erfahren. Als exemplarisch für eine handlungsorientierte Textbetrachtung wird (im Unterschied zur polonistischen Textlinguistik) ausschließlich die Sprechakttheorie angeführt (31ff). Der dazu vorgetragenen Kritik ist zweifellos zuzustimmen.2 Nur hat es neben der Sprechakttheorie auch andere hand­lungstheoretisch begründete Ansätze gegeben; stellvertretend seien hier lediglich die bei Heringer (1974), Sandig (1978) und von Polenz (1985) vorgeschlagenen Konzepte erwähnt. Diese hätten der vorgenommenen Bewertung möglicherweise eine andere Richtung gegeben.

Recht ausführlich und überzeugend äußert sich die Verfasserin zur Textualität und zu den verschiedenen Textbegriffen (39ff). Gerade weil auch neuere und neueste Arbeiten einbezogen werden, gelingt es, die zunehmende Komplexität des Forschungsobjekts Text - speziell die Multikodalität und die Abhängigkeit von neuen Formen der Medialität - anschaulich zu machen. Eine allgemeingültige Definition des Textbegriffs sei aufgrund solcher Entwicklungen auch obsolet geworden. Abschließend wird die Frage aufgeworfen, ob der Text überhaupt noch als Bindeglied zwischen Sprach- und Literaturwissenschaft in Frage komme und inwieweit die Textlinguistik als eine Art Brücken-Disziplin fungieren könne – eine Frage, auf die es angesichts der relativ starken Orientierung an Gebrauchstexten, zumindest auf deutscher Seite, keine einfache Antwort geben dürfte.

Der zweite Abschnitt - Grundlagen und Entwicklungen der germanistischen Textsortenlinguistik (63-109) - ist ganz der Textsortenlinguistik gewidmet. Es herrscht ein breiter Konsens insofern, als Textsorten
  • nach bestimmten, in einer Kommunikationsgemeinschaft etablierten Mustern realisiert werden,
  • sich als Mittel zur Lösung rekurrenter Probleme historisch herausgebildet (und bewährt) haben,
  • eine mehr oder weniger starke kulturelle Geprägtheit aufweisen,
  • somit einem ständigen Wandel unterworfen sein können und
  • sich in der konkreten Anwendung den gegebenen situativen Erfordernissen oder auch sprachstilistischen Intentionen anpassen lassen.
Die Verfasserin beschränkt sich nicht darauf, die diversen Klassifikationsansätze Revue passieren zu lassen, sondern wählt eine Darstellungsweise, die immer auch die betreffenden Auseinandersetzungen (und nicht selten kontroversen Positionen) zur Sprache bringt und so die Leser in die jeweiligen Argumentation mit einbezieht. Zu begrüßen ist weiterhin die Ausführlichkeit, mit der neuere Tendenzen der Textgestaltung und der Text(sorten)verwendung behandelt werden. Es erscheint zunehmend unangemessen, das Augenmerk allein auf Einzeltexte zu richten; die Textrealität macht es vielmehr erforderlich, der Einbettung in größere Zusammenhänge, in Textsortennetze oder -felder, Rechnung zu tragen und ebenso die Möglichkeiten multikodaler (bzw. multimodaler) Beitragspräsentation gebührend einzubeziehen. All dies deutet offenkundig auf eine Neubestimmung des Untersuchungsobjekts der Textlinguistik hin:
So oder so scheint der Text heute den Status eines Hyperonyms, d.h. des größten Untersuchungsgegenstandes der Linguistik, zu verlieren. Schlüsselbegriffe sind jetzt Textnetze und Diskurse. Trans­phrastische Texte machen Platz für transtextuelle, also über die Grenze eines Einzeltextes hinausgehende Diskurse. Die ehemalige Textwelt wird zu eng, gilt heute als ein Mikrokosmos. Ins Spiel kommt ein diskursiver Makrokosmos. (Olszewska & Kątny 2013: 13)
Auf diese Diskussion geht die Verfasserin ausführlich ein und demonstriert anhand des Begriffs der Kontextualisierung - dies auch unter Hinzuziehung eigener Arbeiten - wie vielfältig die Textverbindungen ausfallen können und mit welchen Formen der ,Textsorten-Intertextualität‘ (104) zu rechnen ist. Diese Passagen gehören ohne Frage zu den wichtigsten und anregendsten des Buches.

Ein spezielles und sehr differenziertes Betätigungsfeld innerhalb der Textlinguistik ist die sogenannte Kontrastive Textologie; mit ihr beschäftigt sich der dritte Abschnitt (111-145). Dargestellt werden auch hier wichtige Entwicklungsphasen sowie zentrale Problem­stellungen. Die Verfasserin plädiert – in enger Anlehnung an Arbeiten von Kirsten Adamzik – für eine möglichst breit angelegte Forschung, die sowohl synchrone als auch diachrone und kulturkontrastive Aspekte mit berücksichtigt. Zu Recht wird außerdem betont, daß es vielfach nicht genügen kann, allein die Kategorie Textsorte als Vergleichsgröße zugrundezulegen:
Man kann nicht in jedem Fall von einer Eins-zu-eins-Entsprechung von Textsorten in verschiedenen Medien, Sprachen, Kulturen oder Kommunikationsgemeinschaften ausgehen, die Relationen sind hier manchmal viel komplexer und komplizierter. (130)
Insofern komme es immer darauf an, den Stellenwert einer Textsorte in ihrem Umfeld zu untersuchen und gegebenenfalls Textsortennetze (oder noch größere Datenmengen) in den Blick zu nehmen.

Aus polonistischer Sicht mag man durchaus der Meinung sein, bei der Kontrastiven Textologie handle es sich um eine „germanistische Spezialität“ (145); dies sollte jedoch nicht über die großen Anteile anderer Philologien - gerade in der Anfangsphase, aber nicht allein dort - hinwegtäuschen.

Es ist nur folgerichtig, wenn die bisherigen Überlegungen im vierten Abschnitt zu einem wiederum erweiterten Bereich führen, nämlich zur linguistischen Diskursforschung (147-200). ,Diskurs‘ gehört bekanntlich zu den schillernden, sehr vielfältig gebrauchten Begriffen, und die Frage, ob man die Diskursforschung als Erweiterung der Textlinguistik auffassen kann, erscheint keineswegs unberechtigt (vgl. dazu zuletzt Niehr 2014: 29ff). Die Verfasserin favorisiert hier eine Position, wonach der Text eine Verankerung im Diskurs hat, die Partizipation am Diskurs also gleichsam zu den textkonstitutiven Eigenschaften gehört (156). Gleichwohl ist von divergierenden Ausrichtungen in der Diskursanalyse auszugehen; man kann wenigstens grob zwischen textlinguistisch orientierten und gesellschaftspolitisch orientierten Ansätzen unterscheiden (160ff). In diesem Rahmen wird der Leser mit einem breiten Spektrum unterschiedlicher Schulen und methodischer Ansätze konfrontiert, verbunden mit zahlreichen einordnenden und wertenden Hinweisen, die Fortschritte wie auch Grenzen aufzeigen und die jeweils den Bezug zu textlinguistischen Prinzipien deutlich machen.

Die abschließende Zusammenfassung (201-209) lenkt den Blick noch einmal auf einige zentrale Diskussions- und Problempunkte sowie auf Konsequenzen, die sich für die weitere Arbeit ergeben. U.a. geht es um eine neue Auffassung von Textualität und eine Neubewertung intertextueller und diskursiver Zusammenhänge, dies vor allem wegen einer stark veränderten medialen Wirklichkeit. Unter diesem Gesichtspunkt kommt speziell der Kontrastiven Medienlinguistik, einschließlich diachroner und kulturspezifischer Aspekte, eine erhöhte Bedeutung zu.3 Dem stehen auch internationalisierende Entwicklungen offenbar nicht entgegen.
Trotz der Globalisierung als allgemeiner Tendenz scheinen genug Differenzen zwischen den Kulturen im interessierenden Bereich zu bestehen, auch geringe Unterschiede sind hier nicht zu unterschätzen. (206)
Insgesamt betrachtet, hat Zofia Bilut-Homplewicz eine Arbeit vorgelegt, die viele gelungene Synthesen enthält, die dabei aber die Konkretheit der referierten Positionen und Methoden nie vernachlässigt. Ein weit verzweigtes, nur noch schwer überschaubares Arbeitsfeld, zu dem inzwischen zahllose Publikationen erschienen sind, wird geschickt strukturiert und dem Rezipienten in einer gut lesbaren Form nahegebracht. Sicher kann man gelegentlich darüber streiten, ob die Auswahl der zitierten Autoren richtig, ob die Ausführlichkeit der Wiedergabe bestimmter Textstellen angemessen ist, doch dürfte dies das Instruktive der Überblicksdarstellung kaum in Frage stellen. Die vorliegende Schrift ist nützlich für jeden, der sich über den aktuellen Stand der germanistischen Text-, Textsorten- und Diskurslinguistik informieren möchte.

Gleichzeitig geht es um ein Buch, das den Wissenschaftsaustausch zwischen der deutschen und der polnischen Textwissenschaft intensivieren soll. Und ein solcher Austausch ist auch für die umgekehrte Transferrichtung vorgesehen. Insofern darf man auf den zweiten Band schon jetzt gespannt sein.




Bibliographie

Bilut-Homplewicz, Zofia (Hrsg.) (1999): Zur Mehrdimensionalität des Textes. Repräsentationsformen, Kommunikationsbereiche, Handlungsfunktionen. Rzeszów: Wydawnictwo WSP.

Bilut-Homplewicz, Zofia (2008): Prinzip Kontrastivität. Einige Anmerkungen zum interlingualen, intertextuellen und interlinguistischen Vergleich. In: Czachur, Waldemar & Czyżewska, Marta (Hrsg.): Vom Wort zum Text. Studien zur deutschen Sprache und Kultur. Festschrift Józef Wiktorowicz. Warschau: Instytut Germanistyki Uniwersytetu Warszawskiego, 483-492.

Bilut-Homplewicz, Zofia (2012): Kommentar als ,Pressegattung’. Zur Spezifik der Presseforschung in Polen. In: Lenk, Hartmut E.H. & Vesalainen, Marjo (Hrsg.): Persuasionsstile in Europa. Hildesheim: Olms, 93-113.

Bilut-Homplewicz, Zofia, Czachur, Waldemar & Smykała, Marta (Hrsg.) (2009): Lingwistyka tekstu w Niemczech. Pojęcia, problemy, perspektywy (antologia tłumaczeń). Breslau: Wydawnictwo Atut.

Heringer, Hans Jürgen (1974): Praktische Semantik. Stuttgart: Klett.

Niehr, Thomas (2014): Einführung in die linguistische Diskursanalyse. Darmstadt: WBG.

Olszewska, Danuta / Kątny, Andrzej (2013): Vom Text zum Diskurs, genauer gesagt: Vom Text zum Text im Diskurs. In: Studia Germanica Gedanensia 29, 9-22.

von Polenz, Peter (1985): Deutsche Satzsemantik. Grundbegriffe des Zwischen-den-Zeilen-Lesens. Berlin, New York: de Gruyter.

Sandig, Barbara (1978): Stilistik. Sprachpragmatische Grundlegung der Stilbeschreibung. Berlin, New York: de Gruyter.

Wawrzyniak, Zdzisław (1980): Einführung in die Textwissenschaft. Probleme der Textbildung im Deutschen. Warschau: Państwowe Wydawnictwo Naukowe.


Rezensent:
Prof. Dr. Heinz-Helmut Lüger
Zeppelinstraße 45
D-76887 Bad Bergzabern
E-Mail: heinz-helmut.lueger@t-online.de


1 Zur Veranschaulichung und Erprobung des Konzepts sei hier vor allem verwiesen auf Bilut-Homplewicz (2008) und (2012).

2 Als Ergänzung wäre ebenso die diesbezügliche Argumentation im nachfolgenden Abschnitt (83ff) ein­zubeziehen.

3 Eine solche Tendenz ist ebenso an der großen Zahl einschlägiger medienlinguistischer Arbeiten ablesbar (vgl die Bibliographie in: http://www.kontrastive-medienlinguistik.net).

4 Weitere Einzelheiten werden ausgeführt in: Beiträge zur Fremdsprachenvermittlung 50 (2011), 139-140, sowie auf der Internetseite: http://www.tdk.univ.rzeszow.pl/de/?page_id=2.