Journal of Linguistics and Language Teaching
Volume 6 (2015) Issue 1
Marc
Décimo: Comment la linguistique vint à Paris. De Michel Bréal à
Ferdinand de Saussure (= Sciences et Pataphysique, tome 2). Dijon:
Les presses du réel 2014. 416
Seiten (ISBN 978-284066-599-1).
Der
Titel der hier zu besprechenden Publikation kann möglicherweise
mißverstanden werden, deshalb sei vorweg klargestellt: Das Buch hat
keine spezielle linguistische Untersuchung zum Gegenstand, es liefert
ebensowenig einen Beitrag zu den zentralen Thesen des Strukturalismus
oder der vergleichend-historischen Sprachwissenschaft. Insofern geht
es auch nicht primär um eine wissenschaftsgeschichtliche Darstellung
im herkömmlichen Sinn. Das Hauptanliegen dieser umfangreichen Arbeit
besteht vielmehr darin, einen bestimmten Zeitabschnitt, ganz grob die
zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts, in den Blick zu nehmen und
anhand vieler biographisch orientierter Studien die Hintergründe der
Entwicklung der französischen Linguistik in dieser Zeit zu
beleuchten. Insbesondere soll gezeigt werden, wie es zu dem
Paradigmenwechsel kommen konnte, der letztlich in dem Ferdinand de
Saussure zugeschriebenen Cours
de linguistique général
(1916) seinen Ausdruck fand, wie die Rahmenbedingungen im einzelnen
aussahen und welche Personen beteiligt waren:
Cette histoire passe par Paris, dans ce cénacle où se cotoient Michel Bréal, Gaston Paris, les frères James et Arsène Darmesteter, Louis Havet, Paul Meyer, Victor Henry, et une nouvelle génération de linguistes en train de se former. (8)
Vorweg
sei weiter festgehalten: Der Buchautor Marc Décimo ist für eine
Arbeit dieser Art geradezu prädestiniert; er hat sich durch
zahlreiche Einzelstudien zum historischen Kontext, speziell zu Bréal1
und de Saussure2,
international einen Namen gemacht. Der vorliegende Band greift einige
seiner früheren Überlegungen wieder auf und stellt sie in einen
umfassenderen Zusammenhang. Der Aufbau ist überwiegend chronologisch
und gliedert sich in folgende Kapitel:
Point d’entrée1: Michel Bréal. Des années d’étude au Collège de France (1852 à 1864)2: La création de l’École des hautes études et de la Revue critique d’histoire et de littérature (1868)3. Ferdinand de Saussure à l’École des hautes études (1881-1891 moins 1889-1890)4. Les auditeurs de Ferdinand de SaussureDocument: Michel Bréal, par son fils AugusteBibliographie, Index
Im
Anschluß an eine kurze Einleitung (5-9) zeichnet der erste Abschnitt
in erster Linie das Wirken Michel Bréals in Paris nach (10-43).
Dabei - und das trifft auf alle Kapitel des Bandes zu - bemüht der
Verfasser eine große Zahl von Dokumenten, die von intensiven
Archiv-Recherchen zeugen. Es gelingt so, die Geschehnisse sehr
konkret darzustellen und viele Entscheidungsabläufe leicht
nachvollziehbar zu machen. Zu dieser Veranschaulichung tragen nicht
zuletzt auch zahlreiche Porträt-Bilder der besprochenen
Wissenschaftler bei.
Gerade
über den Einblick in verschiedene Briefwechsel wird deutlich, wie
einzelne Wissenschaftler zueinander stehen, was ihre wichtigsten
Handlungsmotive sind und welche Einschätzungen sie teilen. So
erfährt man z.B. aus einer brieflichen Mitteilung Bréals, was in
der Mitte des 19. Jahrhunderts genau die Attraktivität deutscher
Universitäten ausmacht, was auf französischer Seite als modellhaft
und nachahmenswert betrachtet wird:
Ce qu’alors on envie à l’Allemagne, c’est précisément les chaires universitaires spécialisées, l’abondance de cours, la variété des études, la liberté des étudiants, la libre-concurrence des maîtres, la respectueuse familiarité entre maître et élèves, et surtout les « séminaires ». On a compris l’utilité du travail en commun. Elle est une « vraie université ». Le séminaire est l’arme décisive. Et l’adoption d’un tel modèle en France permettrait de « poursuivre vigoureusement le faux savoir », de « signaler les méthodes vicieuses », de progresser. (25)
Derartige
Äußerungen ermöglichen - so subjektiv und einseitig sie bisweilen
auch sein mögen - eine detaillierte, relativ distanzlose
Kenntnisnahme und stehen für eine leicht faßbare
Sachverhaltsinformation. Auf diese Weise wird dem Leser u.a.
vermittelt, welche Schwerpunkte in der französischen
Sprachwissenschaft vertreten werden, welche Personen beteiligt sind,
wie es zu Erneuerungen und zur Einführung der
historisch-vergleichenden Methode (im Anschluß an Franz Bopp) kommt.
Große Bedeutung erhält in dem Zusammenhang die Einrichtung eines
neuen Lehrstuhls für Vergleichende Grammatik am Collège
de France.
Hier kann Décimo anhand seiner Dokumentation zeigen, mit welchem
Engagement Sprachforscher wie z.B. Frédéric Baudry die Kandidatur
Bréals unterstützen und für den Aufbau einer modernen Linguistik
werben – ein Unterfangen, das letztlich Erfolg hat, und Bréal kann
in der Funktion als Lehrstuhlinhaber von 1866 bis 1905, also nahezu
vierzig Jahre lang, an der prestigereichen Institution tätig sein.
Der
zweite Abschnitt (44-79) behandelt die anschließenden Entwicklungen.
Zu nennen ist zunächst die Gründung einer Hochschule neuen Typs,
der École
Pratique des Hautes Études
im Jahre 1868, wiederum unter Mitwirkung Bréals. Mit dieser Maßnahme
soll sowohl die Modernisierung und Professionalisierung der
französischen Universitätslehre vorangetrieben als auch eine
politische Öffnung gefördert werden:
Il s’agit d’amener la France à un niveau de compétence au moins égal à celui de l’Allemagne. Il s’agit de rapprocher les deux peuples en faisant reculer toujours l’ignorance, l’esprit d’intolérance, les croyances et les préjugés. (...) Éradiquer les préjugés qui détériorent la paix sociale, qui favorisent les injustices et l’exclusion, voici l’objectif. (53)
Eine
solche grenzüberschreitende Perspektive kennzeichnet ebenfalls die
aufsehenerregende Publikation Bréals Quelques
mots sur l’instruction publique en France
von 1872, die in wenigen Monaten allein drei Auflagen erreicht.
Décimo zitiert hierzu eine Rezension, die die deutsch-französische
Brisanz treffend beleuchtet:
Je sais que, chez beaucoup d’esprits passionnés, la pensée de prendre l’Allemagne pour modèle en quelque chose, depuis les événements, soulève une révolte instinctive. On me permettra de combattre ce sentiment comme peu raisonnable. Il ne s’agit pas d’imiter l’Allemagne par sympathie, mais nous devons l’étudier d’autant plus qu’elle vient de nous vaincre. (58)
Ebenfalls
als Reaktion auf den Deutsch-französischen Krieg kommt es 1870 bzw.
1874, wiederum unter Mitbeteiligung von Michel Bréal, zur Gründung
der École
alsacienne,
einer privaten und laizistischen Schule, die mit alternativer
Pädagogik und verstärktem Fremdsprachenangebot versucht, bestimmte
Defizite des etablierten französischen Schulsystems zu vermeiden3.
Im Jahre 1880 wird als parallele Einrichtung für Mädchen das
Collège
Sévigné
gegründet. Die Öffentlichkeitsarbeit rückt in dieser Zeit der
kritischen Bestandsaufnahme, der Bildungsreformen, der Konsolidierung
der Sprachwissenschaft, aber auch der vereinzelten Versuche,
deutsch-französische Feindseligkeiten zu überwinden, zunehmend in
den Mittelpunkt. Ein wichtiges Sprachrohr für Kritik und
Reformvorschläge ist dabei die Revue
critique d’histoire et de littérature.
In dem Rahmen erscheint es nur folgerichtig, wenn Décimo hier auch
den Versuch Bréals zur Sprache bringt, in einem im Jahre 1913
veröffentlichten Artikel für eine Neutralisierung des Reichlandes
Elsaß-Lothringen zu werben. Allerdings bleiben solche Bemühungen
weitgehend folgenlos und sorgen eher für eine politische Isolierung
des Autors4.
Im
dritten Abschnitt (80-137) geht es primär um das Wirken und die
Karriere Ferdinand de Saussures an der École
Pratique des Hautes Études,
an die er auf Betreiben Bréals im Jahre 1880 berufen wird. Auch in
diesem Fall gelingt es Décimo, die Sonderstellung de Saussures, der
sich schon früh großes Ansehen erwirbt, nicht allein durch
Einblicke in seine Arbeit, sondern ebenso durch Briefzitate und
andere Stellungnahmen sowie durch kenntnisreiche Schilderungen seines
Umfelds anschaulich zu machen. In der gleichen methodischen Weise
wird über die Resonanz informiert, die der Wissenschaftler in Paris
erfährt, über den Austausch mit anderen Sprachforschern, die
Hintergründe und Bedingungen seines Wechsels nach Genf im Jahre 1889
und über seinen Nachfolger Antoine Meillet. Dank der gründlichen
Archiv-Arbeit Décimos entsteht ein dichtes, zugleich lebendiges und
ausgesprochen facettenreiches Bild dieser Periode, wobei der Leser
gleichzeitig eine klare Vorstellung von der Rolle der
Sprachwissenschaft in der Gesellschaft erhält.5
Der
vierte - und umfangreichste - Abschnitt (138-366) ist noch einmal der
École Pratique des Hautes Études gewidmet; er beschreibt
verschiedene Studiengänge und wissenschaftliche Schwerpunkte und
liefert eine Art Resumee der erreichten Fortschritte. In einer
Würdigung aus der Feder Antoine Meillets heißt es in der Rückschau:
Quand on a commencé à étudier en France la grammaire comparée des langues indo-européennes, elle avait déjà en Allemagne ses manuels et ses dictionnaires. Mais Michel Bréal lui a donné aussitôt un tour original et bien français, en montrant dans les langues l’œuvre de l’homme. Puis le Genevois Ferdinand de Saussure a durant dix ans, imprimé à l’École linguistique française la marque de son génie ; son enseignement, où la précision technique la plus rigoureuse laissait toujours entrevoir les idées les plus générales et où des formules exactement arrêtées se joignaient à la poésie de l’expression, a laissé à tous ceux qui l’ont entendu un souvenir qui ne s’effacera jamais et dont vit encore le groupe des linguistes français. (164 f.)
Den
Hauptteil dieses Abschnitts bildet eine Liste von Schülern de
Saussures (166-366); dabei bezeichnet der Ausdruck Liste
nur die alphabetische Anordnung, einige Persönlichkeiten erhalten
hier eine sehr ausführliche Darstellung von mehreren Seiten, oft
ergänzt durch Porträtbilder oder Facsimiles (z.B. Maurice Grammont,
Paul Passy, Jean Psichari oder Marcel Schwob).
Als
Anhang folgen umfangreich annotierte Tagebuchaufzeichnungen von
Bréals Sohn Auguste (368-375).6
Ein detailliertes Literaturverzeichnis und ein Namenregister
schließen den Band ab.
Wie
bereits mehrfach angedeutet, handelt es sich bei der vorliegenden
Publikation Marc Décimos um eine verdienstvolle und äußerst
instruktive Arbeit. Sie liefert nicht nur biographische Detailstudien
zur französischen Sprachwissenschaft in der zweiten Hälfte des 19.
Jahrhunderts; sie ist ebenso eine gut lesbare, mit zahlreichen
Zusatzdokumenten bestückte Darstellung zur Wissenschaftgeschichte
bzw. zum Wissenschaftstransfer in Europa. Darüber hinaus kann man
die Arbeit auch betrachten als eine frankreichkundliche Abhandlung,
die auf exemplarische Weise in eine bestimmte Phase der Entwicklung
des französischen Hochschulwesens einführt. Keine Ebene wird
isoliert gesehen, der Bezug zum gesellschaftspolitischen Hintergrund
bleibt jederzeit präsent – gerade das macht nicht zuletzt den Reiz
und die Qualität dieses Buches aus.
Bibliographie
Boutan,
Pierre (2007): Michel Bréal und das deutsche Pädagogikmodell. In:
Giessen, Hans W., Lüger, Heinz-Helmut & Volz,
Günther (Hrsg.): Michel
Bréal – Grenzüberschreitende Signaturen.
Landau: VEP, 321-339.
Chidichimo,
Alessandro (2014): Les documents de Michel Bréal à Genève. In:
Chepiga, Valentina / Sofía, Estanislao (Hrsg.): Archives
et manuscrits de linguistes.
Louvain-la-neuve: L’Harmattan, 149-166.
Décimo,
Marc (1994): Saussure à Paris. In: Cahiers
Ferdinand de Saussure
48, 75-90.
Décimo,
Marc (1997): Michel
Bréal 1832-1915. Cataloque
de l’exposition tenue à l’occasion du colloque « Bréal et
le sens de la sémantique ».
Orléans: Centre Charles Péguy.
Décimo,
Marc (1998): La celtomanie au XIXe
siècle. In: Bulletin
de la Société de Linguistique de Paris
93, 1-40.
Décimo,
Marc (1999): Une petite famille de travailleurs autour de Georges
Guieysse: le monde de la linguistique parisienne. In: Cahiers
Ferdinand de Saussure
52, 99-121.
Décimo,
Marc (2011): De Michel Bréal, lecteur de Goethe, aux relations
franco-allemandes du point de vue philologique des années 1850 à
1932. In: Alexandre, Didier & Asholt, Wolfgang (Hrsg.):
France
– Allemagne, regard et objets croisés.
Tübingen: Narr, 15-29.
Décimo,
Marc / Fiala, Pierre (2004): Michel Bréal, le marathon,
l’olympisme et la paix. In: Mots.
Les langages du politique
76, 127-135.
Joseph, John E. (2012):
Saussure. Oxford: University Press.
Lüger,
Heinz-Helmut, Hans W. Giessen & Bernard Weigel (Hrsg.) (2012):
Entre
la France et l’Allemagne: Michel Bréal, un intellectuel engagé.
Limoges: Lambert-Lucas.
Rezensent:
Prof.
Dr. Heinz-Helmut Lüger
Zeppelinstraße
45
D-76887
Bad Bergzabern
E-Mail:
heinz-helmut.lueger@t-online.de
1
Décimo (1997), (2011),
Décimo / Fiala (2004); vgl. auch die Angaben in:
http://www.michel-bréal-gesellschaft.de > Publikationen >
Sekundärliteratur. – Bezüglich der Herkunft Bréals finden sich
mitunter widersprüchliche Angaben (vgl. Boutan 2007: 323). Deshalb
sei nochmals betont: Bréal wird 1832 in Landau/Pfalz geboren, das
seinerzeit zum Königreich Bayern gehört; sein Vater stammt aus
Pirmasens, seine Mutter aus Metz.
2
Verwiesen sei u.a. auf Décimo
(1994), (1999) und als wissenschaftshistorische Abgrenzung: Décimo
(1998).
4
Dieses Schicksal ereilt dann auch den
Schwiegersohn Bréals (und späteren Friedensnobelpreiträger),
Romain Rolland, der ab September 1914 im Journal
de Genève wiederholt
gegen Aufrüstung und Kriegspropaganda Stellung bezieht.
5
Bezüglich der Auswertung von
Archiv-Quellen zu Bréal und de Saussure sei außerdem verwiesen auf
Chidichimo (2014) und auf die Monumentalstudie von Joseph (2012).
6
Zuvor veröffentlicht in: Décimo
(1997: 32-37); auszugsweise in: Lüger, Giessen & Weigel (2012:
21-26).