Editor

JLLT edited by Thomas Tinnefeld
Journal of Linguistics and Language Teaching
Volume 5 (2014) Issue 2
S. 245-256

Zu einer genreabhängigen kognitiven Textrezeption - 
Bericht über eine explorative Studie

Hans W. Giessen (Saarbrücken, Deutschland)


Abstract (English)
In this experimental study, identical texts were presented as poetry or prose, respectively. During the text reception process, participants displayed different reading speeds. It was found that these reading speeds were not due to the original text type the text had been published in, but to the text type these texts were in fact presented to the participants, and therefore seemed to depend on the formal conventions of the respective text type, i.e. poetry or prose, rather than on their contents. In the present article, the experiment is described, and the findings are discussed.
Key words: poetry, prose, reading speed

Abstract (Deutsch)
Im Rahmen einer explorativen Studie wurden identische Texte als Gedichte oder als Prosatexte präsentiert. Während des Rezeptionsprozesses wurden unterschiedliche Lesegeschwindigkeiten gemessen, die nicht von der ,objektiven’ Textsorte abhingen, sondern von der Textsorte, in der sie tatsächlich rezipiert wurden, und die somit eher von Textkonventionen als von den jeweiligen Textinhalten bestimmt wurden. In dem vorliegenden Beitrag erfolgt eine Beschreibung des Experiments und eine Diskussion der erzielten Ergebnisse.
Stichwörter: Gedichte, Lesegeschwindigkeit, Prosa


1   Einleitung

Es ist schon lange bekannt, dass ein Medium oder auch eine Gattung oder ein Genre - im Printbereich, um den es im Folgenden gehen wird, eine Textsorte - den jeweiligen Inhalt mit beeinflusst (dazu und zum Folgenden, Giessen 2004). Bezüglich unterschiedlicher Medien ist dies noch relativ leicht nachvollziehbar: Wenn Inhalte - beispielsweise für das Fernsehen - aufbereitet werden sollen, müssen sie visualisiert werden. Es ist relativ schwer, einen Inhalt für dieses Medium aufzubereiten, wenn keine Bilder vorhanden oder produzierbar sind. Zudem erfordert die visuelle Aufbereitung andere Vorgehensweisen und führt zu anderen inhaltlichen Schwerpunkten als die geschriebene Argumentation oder Narration. Dies nicht zu berücksichtigen, führt zu zwar nachvollziehbaren, aber letztlich unergiebigen Klagen wie derjenigen, dass eine gegebene Verfilmung ein Buch nicht in seiner argumentativen Tiefe wiedergegeben habe, auch wenn der Film als solcher überzeugend gewesen sein mag.

Ganz eindeutig liegt die Ursache - zumindest in diesem Fall - bei medienspezifischen Produktionszwängen und -bedingungen. In anderen Zusammenhängen können auch unterschiedliche Nutzersituationen die Ursache für verschiedene Rezeptionsweisen sein. So wird ein und derselbe Film höchst unterschiedlich wahrgenommen - je nachdem, ob er im Kino oder im Fernsehen angesehen wird. Er wirkt emotional anders; auch die (natürlich identischen) Inhalte werden unterschiedlich aufgenommen und sind auf jeweils spezifische Art und Weise wirksam.

Schließlich könnte fraglich sein, ob Inhalte auch deshalb unterschiedlich aufgenommen werden, weil sie möglicherweise unterschiedlich verarbeitet werden, je nachdem, über welches Medium oder Genre sie vermittelt werden. Zu dieser Frage scheinen bisher jedoch nur wenige Forschungsergebnisse zu existieren. Dass es mögliche Effekte gibt, haben Eviatar & Just (2006) oder jüngst Mueller & Oppenheimer (2014) zeigen können. Eviatar und Just haben zwar keine explizit gattungs- oder genreabhängigen Phänomene untersucht, aber immerhin Unterschiede in der mentalen Verarbeitung von Ironie und Metaphern belegen können. Mueller und Oppenheimer ließen Probanden auf dem Rechner beziehungsweise mit Stift und Papier Vorträge protokollieren und erkannten medienabhängige Verarbeitungseffekte.

Zu der unterschiedlichen Verarbeitung von Textsorten habe sich jedoch keine Studien finden lassen. Im Folgenden soll daher eine erste explorative Studie vorgestellt werden mit der untersucht werden sollte, ob es Hinweise für eine genreabhängige Verarbeitung von Inhalten gibt.


2   Fragestellung

Zweck der Studie ist es mithin zu überprüfen, ob ein Text unterschiedlich verarbeitet wird, wenn der Proband davon ausgeht, ihn als Äußerung einer jeweils spezifischen Textsorte zu lesen.

Eine Textsorte, die dem ersten Eindruck zufolge auf besondere Art und Weise verarbeitet und erlebt wird, ist das Gedicht. Fraglich wäre somit, ob sich die Verarbeitung eines Textes ändert, je nachdem, ob er den Probanden in Gedichtform präsentiert wird, oder als scheinbarer Prosatext – und auch umgekehrt, wenn ein Prosatext als Lyrik präsentiert wird.
Konkret sollen zwei miteinander verbundene Fragestellungen untersucht werden:
  • Gibt es einen messbaren Effekt der Objekteigenschaften unterschiedlicher Textsorten, auch wenn der Leser gar nicht um diese Information weiß? Dahinter steht die Frage, ob die subjektive Erwartungshaltung die ,objektiven’ Effekte determiniert.
  • Gibt es einen messbaren Effekt, wenn ein Leser subjektiv von einer spezifischen Textsorte ausgeht - insbesondere von der Textsorte Lyrik -, wenn er also einen Text aufgrund von Vorinformationen als Gedicht wahrnimmt, unabhängig davon, ob es sich tatsächlich um Lyrik handelt (die Vorinformationen also korrekt oder falsch sind).

3   Das Experiment

Bedingung an das Korpus ist, dass es sich um Texte handeln soll, die in beiden Textsorten - als Prosatext oder als Gedicht - lesbar und jeweils als Text der entsprechenden Gattung akzeptabel sind. Daher sollten sich die lyrischen Texte reimen, um diesbezüglich die klassischen Eigenschaften eines Gedichts aufzuweisen. Allerdings sollten andere objektive Gattungseigenschaften wie Satzstellung oder Rhythmisierung nicht allzu dominant sein, damit das Gedicht auch als Prosatext gelesen werden kann. Insbesondere sollte die Verbindung zwischen dem Reim- beziehungsweise Versezeilenende und dem Ende einer semantischen Einheit aufgehoben sein, damit das Reimschema in der Prosaversion nicht unmittelbar erkennbar ist (Zeilensprung). Umgekehrt mussten auch die Prosatexte als Gegenwartslyrik interpretiert werden können. Zu diesem Zweck sollten sie eine tendenziell poetisierende Sprache und eine spezifische Verdichtung von Gedanken und Gefühlen aufweisen.

Ausgehend von diesem Korpus sollte untersucht werden, wie Probanden einen Text verarbeiten, den sie als Gedicht lesen - unabhängig davon, ob es sich tatsächlich um ein Gedicht handelt, oder um einen Prosatext, der insbesondere durch überraschende Zeilensprünge in der Darstellung als zeitgenössisches Gedicht beziehungsweise als Gegenwartslyrik präsentiert wird. Die Probanden sollten die Texte unter der Prämisse betrachten, dass es sich um ein Gedicht oder - in der Kontrollgruppe -, dass es sich bei demselben Text um einen Prosatext handele. Zu diesem Zweck betonte der Versuchsleiter explizit, um welche Textsorte es sich beim jeweils folgenden Text handele - unabhängig davon, welche Textsorte es tatsächlich war. Die Mitteilung an die Probanden lautete also: "Nun folgt ein Gedicht" oder "Nun folgt ein Prosatext".

Es wurden also zwei Gruppen gebildet, die jeweils dieselben Texte erhielten, aber jeweils mit umgekehrter Attribuierung (vgl. die verwendeten Texte im Anhang). Die eine Gruppe erhielt:
  • ein zeitgenössisches Gedicht mit der (korrekten) Attribuierungzeitgenössisches Gedicht;
  • einen Prosatext mit der (falschen) Attribuierung zeitgenössisches Gedicht, typographisch als ,zeitgenössisches Gedicht’ gesetzt;
  • ein zweites zeitgenössisches Gedicht mit der (falschen) Attribuierung ,Prosatext’, typographisch als Prosatext gesetzt;
  • einen Prosatext mit der (korrekten) Attribuierung Prosatext.
Die zweite Gruppe erhielt die folgenden Texte und Informationen:
  • das zweite zeitgenössische Gedicht, hier mit der (korrekten) AttribuierungGedicht;
  • den zweiten Prosatext, hier mit der (falschen) Attribuierung Gedicht, typographisch als ,zeitgenössisches Gedicht’ gesetzt;
  • das erste zeitgenössische Gedicht, hier mit der (falschen) AttribuierungProsatext und typographisch als Prosatext gesetzt;
  • den ersten Prosatext, hier mit der (korrekten) Attribuierung Prosatext
Mit dieser Kreuzkonstruktion sollten sowohl die objektiv messbaren Eigenschaften der Textsorten als auch der Einfluss der subjektiven Erwartungshaltung seitens der Probanden erkannt werden. Die Probanden erhielten also jeweils die Information, dass es sich um ein ,zeitgenössisches Gedicht’ beziehungsweise um einen ,Prosatext’ handele. Sie sollten die Gedichte als erstes und mithin vor den Prosatexten lesen, um sich daran zu gewöhnen, dass Reime zwar existieren können, aber nicht sofort erkennbar sein mögen. Damit wären eventuelle Zweifel bei dem (tatsächlichen) Prosatext mit der Attribuierung als zeitgenössischem Gedicht beziehungsweise als zeitgenössischer Lyrik geringer. Falls Ausstrahlungseffekte auftreten sollten - die aber bereits durch die Attribuierung im Rahmen des Versuchs verhindert werden sollen, da diese Attribuierung zumindest Primingqualitäten hat -, würden sie, so die Hoffnung, durch die Ersterfahrung eines sich tatsächlich reimenden Gedichts weiter geschwächt.

Um eventuelle Irritationen zu vermeiden, wurde für das Experiment zumindest insoweit die neue Rechtschreibung genutzt, als jeweils beispielsweise die Schreibungen daß in dass und muß in muss übertragen worden sind.

Die Operationalisierung erfolgte über eine spezifische Gestaltung der Texte: Diese wurden als PowerPoint-Folien auf dem Computer präsentiert, wobei eine Textzeile jeweils monitorfüllend dargestellt wurde. Dabei wurde jeweils nur eine Zeile gezeigt; die Texte waren also nicht in ihrer Gesamtheit erkennbar. Bei den Gedichten wurden einzelne Verszeilen entsprechend der Vorgabe aus dem Original dargestellt. Bei den Prosatexten wurde in paralleler Darstellung verfahren. Ihre Länge der präsentierten Textteile ergab sich aus der Anzahl der Wörter, die bei identischem Schriftgrad automatisch eine Zeile ergaben. Die Silbentrennung blieb bewusst ausgeschaltet, so dass jeweils das letzte komplette Wort das Zeilenende definierte. Entsprechend war die Vorgehensweise bei den lyrischen Texten, die den Probanden als Prosatexte präsentiert wurden. Hier wurden die von den Autoren intendierten Verse ignoriert. Diese Texte wurden ebenfalls als Fließtext dargestellt, wobei das letzte komplette Wort das Zeilenende definierte. Die Prosatexte, die als zeitgenössische Lyrik ausgegeben wurden, wurden dagegen mit Zeilenbrüchen versehen, die in der Regel früher eingefügt wurden, als dies bei einem automatischen Zeilenumbruch bei den Prosatexten der Fall gewesen wäre. Dabei stand stets das Bemühen im Vordergrund, mit Hilfe der Zeilenumbrüche neue, poetisierende Strukturen zu evozieren. Die Texte - wie auch ihre Darstellung im Rahmen des Experiments - werden im Anhang dokumentiert.

Als Indikator für die Rezeption wurde die Lesegeschwindigkeit gewählt. Da von individuell unterschiedlichen Lesekompetenzen - und mithin Lesegeschwindigkeiten - ausgegangen werden musste, war es notwendig, eine Probandenzahl zugrundezulegen, die jenseits individueller Spezifika zu relevanten Aussagen führen würde. Insgesamt wurden 40 Probanden rekurriert, die zwei Gruppen zu je 20 Teilnehmer bildeten. Diese Teilnehmerzahl führt sicherlich schon zu belastbaren Resultaten, obwohl für eine aussagekräftige statistische Untersuchung ein größeres Sample notwendig wäre. Von daher handelt es sich hier lediglich um eine Pilotstudie. Die Probanden wurden an der der Philosophischen Fakultät der Universität des Saarlandes per Aushang gewonnen. Aus diesem Grund ist die Altersverteilung relativ einheitlich: Alle Teilnehmer waren Studierende im Alter zwischen 21 und 25 Jahren. Allerdings war die Geschlechterverteilung uneinheitlich. Am Experiment nahmen mehr weibliche (26) als männliche (14) Kandidaten teil. Da die ,Gruppen' nur statistische Größen darstellten - tatsächlich wurden die Experimente als Einzelexperimente durchgeführt und die ,Gruppenzugehörigkeit' war die Folge einer jeweils identischen Vorgehensweise im Rahmen des Experiments -, war es möglich, in beiden Gruppen zumindest eine identische Geschlechterverteilung zu erreichen (13 weibliche und 7 männliche Probanden).

Die Probanden wurden gebeten, die ’Page Down’-Taste auf ihrem Computer zu drücken, wenn sie das Gefühl hatten, die gerade sichtbare Zeile korrekt aufgenommen und verarbeitet zu haben. Die Zeit wurde gestoppt, wobei die jeweils gemessene Zeiteinheit also dem Zeitabstand zwischen dem Erscheinen einer neuen Zeile, weil die ’Page Down’-Taste gedrückt worden war, und dem jeweils erneuten Drücken der Taste entsprach.


4   Ergebnis

Die Zeilen der scheinbaren oder tatsächlichen Prosatexte waren stets länger als die Verszeilen der scheinbaren oder tatsächlichen lyrischen Texte. Dennoch benötigten die Probanden für die Rezeption der scheinbaren oder tatsächlichen Gedichten mehr Zeit:

Textsorte
Gemessene Rezeptionszeit
Gedicht
Ø 4“ 9 ms
Vorgegebenes zeitgenössisches Gedicht
(= Prosatext mit neu eingefügten Zeilen-umbrüchen)
Ø 5“ 1 ms
Prosatext
Ø 4“ 2 ms
Vorgegebener Prosatext
(= Gedicht ohne die vom Autor intendierten Zeilenumbrüche)
Ø 4“ 0 ms

Tab. 1: Lesegeschwindigkeit

Es ergibt sich aus diesen Ergebnissen bezüglich der Lesedauer die folgende Hierarchisierung von demjenigen Text, für dessen Rezeption die längste Zeitdauer in Anspruch nahm, bis zu demjenigen, dessen Rezeption die kürzeste Lesedauer beanspruchte:
1. Das vorgegebenes zeitgenössisches Gedicht, also der Prosatext mit neu eingefügten Zeilenumbrüchen;
2. Das Gedicht
3. Der Prosatext
4. Der vorgegebene Prosatext (das Gedicht ohne die vom Autor intendierten Zeilenumbrüche)

5    Diskussion

Zunächst belegt das Experiment recht eindeutig, dass Lyrik und Prosa offenbar tatsächlich unterschiedlich verarbeitet werden - anders wären die unterschiedlichen Lesegeschwindigkeiten, die offensichtlich nicht mit den objektiven’ Textsorten, sondern mit deren Attribuierung korrelieren, nicht zu erklären. Entscheidend ist demnach also die Attribuierung, nicht die Objekteigenschaft des Textes. Die Entscheidung, einen Text als ,Gedicht’ zu verarbeiten, erfolgt subjektiv beim Leser. So scheint in der Tat die subjektive Erwartungshaltung über die ,objektiven’ Effekte zu entscheiden.

Innerhalb der Textsorten Gedicht und Prosatext weist nun aber jeweils der tatsächliche Prosatext eine etwas längere Lesedauer auf. Dies kann offenbar nicht mit der Länge der Textzeilen erklärt werden, da die Probanden ja jeweils nur eine Zeile erhielten, die in den vorgegebenen Kategorien etwa gleich lang waren: Auch das reale Gedicht hatte als vorgegebener Prosatext eine Zeilenlänge, die sich an den allgemeinen Formatvorgaben orientierte. Zudem entsprachen die Zeilen, die generiert wurden, um den Prosatext als vermeintliches Gedicht zu präsentieren, weitgehend der Zeilenlänge der tatsächlichen Gedichte, waren teilweise sogar kürzer als die tatsächlichen Gedichtzeilen, so dass in der Länge der Textzeilen wohl nicht die Ursache zu suchen ist.

Eine weitere mögliche Ursache könnte in den jeweiligen Texten und ihren inhaltlichen Aussagen und damit ihrer unterschiedlichen Wirksamkeit liegen. Ein solcher inhaltlicher Effekt der Texte sollte aber durch die Kreuzkonstellation aufgefangen worden sein und kann somit ausgeschlossen werden.

Ein weiterer, die Untersuchungsergebnisse potentiell verfälschender Faktor könnte darin liegen, dass die tatsächlichen Prosatexte etwas länger sind, so dass es bei den Probanden hier eher zu Ermüdungserscheinungen kommen kann, die in der Folge die Lesegeschwindigkeit beeinflussen. Um zu überprüfen, ob dieser Effekt zur Verlangsamung der Lesegeschwindigkeit führte, wurde die Lesedauer der zweiten und dritten Zeile - also des Textanfangs, den die Probanden noch "frisch" und also nicht ermüdet lasen - und der beiden letzten Zeilen der beiden (tatsächlichen beziehungsweise scheinbaren) Prosatexte miteinander verglichen, wobei die erste Zeile nicht berücksichtigt wurde, um Effekte zu vermeiden, die darin liegen könnten, dass die Probanden sich an die besondere Lesesituation anpassen mussten. Es zeigte sich allerdings kein signifikanter Unterschied in der Lesedauer, so dass die etwas größere Länge der Prosatexte als Ursache ausgeschlossen werden kann.

Eine andere Ursache könnte theoretisch darin liegen, dass den Probanden zuerst die (tatsächlichen beziehungsweise scheinbaren) Gedichte präsentiert wurden. Sie mussten sich also mit dieser Textsorte an die neue Lesesituation gewöhnen, die ja in der Tat einige Irritationen mit sich gebracht hat - beginnend mit der lediglich zeilenweise möglichen Lektüre bis zu der für diese Textsorte eher ungewohnten Lesesituation am Computer und dies zudem unter Versuchs- und Beobachtungsbedingungen. Diese Ursache ist zweifellos nicht auszuschließen und könnte erklären, warum die Rezeption der (tatsächlichen oder vorgegebenen) Gedichte mehr Zeit in Anspruch nahm als die (tatsächlichen oder vorgegebenen) Prosatexte Allerdings widerspricht dieser Erklärung, dass der tatsächliche Prosatext - im ersten Fall als vorgegebenes zeitgenössisches Gedicht, erkennbar an den neu eingefügten Zeilenumbrüchen - eine jeweils längere Lesedauer beanspruchte als das jeweilige tatsächliche Gedicht. Dieser systematische Unterschied deutet darauf hin, dass die Positionierung im Kontext des Versuchs zumindest nicht die einzige - und vermutlich auch nicht die entscheidende - Erklärung ist. Sicherlich sollte das Experiment aber mit diesbezüglichen Variationen noch einmal wiederholt werden - wenngleich an dieser Stelle auch noch einmal darauf hingewiesen werden soll, dass es ja auch Gründe für die Positionierungen gegeben hatte.

In jedem Fall ist die Vermutung mindestens ebenso wahrscheinlich, dass die Prosatexte offenbar mehr Schwierigkeiten bei der mentalen Verarbeitung hervorriefen. Hier wäre eine Erklärung, dass die eingesetzten Prosatexte eine poetisierendere Sprache hatten als die Gedichte - die Gedichte wurden ja nicht zuletzt vor dem Hintergrund ausgewählt, dass sie zwar Reime aufweisen, ansonsten aber weder bezüglich der Wortwahl, noch bezüglich anderer Eigenschaften wie etwa einer Rhythmisierung, der Wortstellung oder auch der Wortwahl charakteristische Merkmale lyrischer Texte im Vordergrund stehen sollten. Dagegen sollten die Prosatexte poetisierende Sprachmerkmale aufweisen, um auch als Gedichte aufgenommen werden zu können. Falls diese Interpretation korrekt sein sollte, würde dies bedeuten, dass in der Tat eine poetisierende Sprache mehr Zeit zur mentalen Verarbeitung benötigt. Es gibt demnach auch objektive Texteigenschaften, die sich auf die Rezeptionsdauer auswirken. Dennoch spielen die subjektiven Eigenschaften eine größere Rolle: Sie überlagern die objektiven Eigenschaften deutlich.

Über die Gründe dieses Ergebnisses kann zur derzeitigen Forschungsstand nur spekuliert werden: Möglicherweise werden für die Verarbeitung eines Gedichts automatisch - also auch bei der visuellen Darstellung - phonetische Schleifen innerhalb des Arbeitsgedächtnisses aktiviert. Darauf deuten Studien aus dem chinesischen Sprachraum (Matthews et. al. 2003), die nahelegen, dass geschriebene Sprache auf unterschiedliche Art (und damit auch an unterschiedlichen Orten im Gehirn) verarbeitet werden kann. Folgestudien scheinen dies zu bestätigen (Bitan et. al. 2007 und 2009, Bolger et. al. 2008). Demnach wird ein ,Gedicht’ über die syllabische oder metrisch-rhythmische Anordnung phonologischer Hervorhebungen verarbeitet, so dass die Lektüre aus diesem Grunde mehr Zeit benötigt. Das Experiment legt zumindest nahe, dass eine entsprechende Verarbeitung aktiviert wird, wenn der Proband davon ausgeht, einen lyrischen Text zu lesen.

Die dargestellte explorative Studie hat also ein beobachtbares Phänomen beschrieben, wenngleich nur mittelbar und sozusagen ,von außen' durch die Messung der jeweiligen Reaktionszeiten in Abhängigkeit von der Textsorte, welche die Probanden zu lesen glaubten. In einem ersten Schritt wäre es wichtig, diese Ergebnisse zu replizieren. Immerhin ist das Sample durchaus begrenzt und die Testbedingungen inklusive des Messvorgangs selbst waren nicht exakt, auch wenn sich einzelne Messfehler, den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit zufolge, gegenseitig aufgehoben haben dürften. In jedem Fall würde eine Replizierung dem beobachteten Phänomen eine größere Belastbarkeit verleihen.

Falls sich die Ergebnisse replizieren lassen, wäre es in einem zweiten Schritt wichtig, den hier diskutierten Erklärungsansatz zu überprüfen. Wenn die beschriebene Erklärung, nach der phonetische Schleifen für die beobachteten Effekte verantwortlich sind, plausibel ist, könnte dies entsprechend untersucht werden, denn dann ließen sich die Effekte lokalisieren. Dies würde allerdings aufwändigere Versuchsbedingungen erfordern, als sie bei dieser explorativen Studie realisierbar waren.

Vom Ergebnis her würde uns ein solches Vorgehen aber begründet erscheinen, denn es ermöglicht nicht nur neue Erkenntnisse über die Gründe, warum Poesie so wirkungsmächtig ist, sondern würde auch allgemein unser Verständnis kognitiver Vorgänge verbessern.



Anhang:
Verwendete Lyrik und Prosatexte

Text 1: Gedicht 1

Hertha Kräftner: Abends
Aus: Kräftner, H. (1981), Das blaue Licht. Lyrik und Prosa. Darmstadt und Neuwied: Hermann Luchterhand Verlag.
Abends
Er schlug nach ihr. Da wurde ihr Gesicht
sehr schmal und farblos wie erstarrter Brei.
Er hätte gern ihr Hirn gesehen. – Das Licht
blieb grell. Ein Hund lief draußen laut vorbei.

Sie dachte nicht an Schuld und Schmerz und nicht
an die Verzeihung. Sie dachte keine Klage.
Sie fühlte nur den Schlag vom nächsten Tage
voraus. Und sie begriff auch diesen nicht.


Umwandlung
Abends
Er schlug nach ihr. Da wurde ihr Gesicht sehr schmal und farblos wie erstarrter Brei. Er hätte gern ihr Hirn gesehen. – Das Licht blieb grell. Ein Hund lief draußen laut vorbei. Sie dachte nicht an Schuld und Schmerz und nicht an die Verzeihung. Sie dachte keine Klage. Sie fühlte nur den Schlag vom nächsten Tage voraus. Und sie begriff auch diesen nicht.

Text 2: Gedicht 2

Konstantin Wecker: Man muß den Flüssen trauen
Aus: Wecker, K. (1980), Man muß den Flüssen trauen. Unordentliche Elegien. München: Ehrenwirth.


Man muss den Flüssen trauen
Man muss den Flüssen trauen. Sie verschwenden
sich jeden Zentimeter neu. Und weder Zeit
noch Dummheit kann das Fließen je beenden.
Und auch die Wolken sind zu neuem Flug bereit

und sterben nie. Ich will nach oben,
wo mich das Unfassbare härter streift.
Es ist ganz klug, die Götter erst zu loben,
bevor man sie sich endlich greift.

Umwandlung
Man muss den Flüssen trauen.
Man muss den Flüssen trauen. Sie verschwenden sich jeden Zentimeter neu. Und weder Zeit noch Dummheit kann das Fließen je beenden. Und auch die Wolken sind zu neuem Flug bereit und sterben nie. Ich will nach oben, wo mich das Unfassbare härter streift. Es ist ganz klug, die Götter erst zu loben, bevor man sie sich endlich greift.

Text 3: Prosatext 1

Georg Büchner: Woyzeck
Zitiert nach: Büchner, G. (vermutlich 1837, erschienen posthum 1879), Woyzeck, In: Projekt Gutenberg (http://www.gutenberg.org/cache/epub/5322/pg5322.html).


Es war einmal ein arm Kind und hatt' kein Vater und keine Mutter, war alles tot, und war niemand mehr auf der Welt. Alles tot, und es is hingangen und hat gesucht Tag und Nacht. Und weil auf der Erde niemand mehr war, wollt's in Himmel gehn, und der Mond guckt es so freundlich an; und wie es endlich zum Mond kam, war's ein Stück faul Holz. Und da is es zur Sonn gangen, und wie es zur Sonn kam, war's ein verwelkt Sonneblum. Und wie's zu den Sternen kam, waren's kleine goldne Mücken, die waren angesteckt, wie der Neuntöter sie auf die Schlehen steckt. Und wie's wieder auf die Erde wollt, war die Erde ein umgestürzter Hafen. Und es war ganz allein. Und da hat sich's hingesetzt und geweint, und da sitzt es noch und ist ganz allein.

Umwandlung
Es war einmal ein arm Kind
und hatt' kein Vater und keine Mutter,
war alles tot,
und war niemand mehr
auf der Welt.
Alles tot,
und es is hingangen
und hat gesucht
Tag und Nacht.
Und weil auf der Erde
niemand mehr war,
wollt's in Himmel gehn,
und der Mond guckt es so freundlich an;
und wie es endlich zum Mond kam,
war's ein Stück faul Holz.
Und da is es zur Sonn gangen,
und wie es zur Sonn kam,
war's ein verwelkt Sonneblum.
Und wie's zu den Sternen kam,
waren's kleine goldne Mücken,
die waren angesteckt, wie der Neuntöter sie
auf die Schlehen steckt.
Und wie's wieder auf die Erde wollt,
war die Erde ein umgestürzter Hafen.
Und es war ganz allein.
Und da hat sich's hingesetzt
und geweint,
und da sitzt
es noch
und ist ganz allein.

Text 4: Prosatext 2

Hermann Hesse: Siddhartha
Aus: Hesse, H. (1922), Siddhartha. Berlin: S. Fischer. Zitiert nach der Ausgabe Frankfurt: Suhrkamp 2007, Seite 21


Wie wenn in einem Lande die Pest herrscht, und es erhebt sich die Kunde, da und dort sei ein Mann, ein Weiser, ein Kundiger, dessen Wort und Anhauch genüge, um jeden von der Seuche Befallenen zu heilen, und wie dann diese Kunde das Land durchläuft und jedermann davon spricht, viele glauben, viele zweifeln, viele aber sich alsbald auf den Weg machen, um den Weisen, den Helfer aufzusuchen, so durchlief das Land jene Sage, jene duftende Sage von Gotama, dem Buddha, dem Weisen aus dem Geschlecht der Sakya. Ihm war, so sprachen die Gläubigen, höchste Erkenntnis zu eigen, er erinnerte sich seiner vormaligen Leben, er hatte Nirwana erreicht und kehrte nie mehr in den Kreislauf zurück, tauchte nie mehr in den trüben Strom der Gestaltungen unter. Vieles Herrliche und Unglaubliche wurde von ihm berichtet, er hatte Wunder getan, hatte den Teufel überwunden, hatte mit den Göttern gesprochen. Seine Feinde und Ungläubige aber sagten, dieser Gotama sei ein eitler Verführer, er bringe seine Tage in Wohlleben hin, verachte die Opfer, sei ohne Gelehrsamkeit und kenne weder Übung noch Kasteiung.

Süß klang die Sage von Buddha, Zauber duftete aus diesen Berichten. Krank war ja die Welt, schwer zu ertragen war das Leben - und siehe, hier schien eine Quelle zu springen, hier schien ein Botenruf zu tönen, trostvoll, mild, edler Versprechungen voll. Überall, wohin das Gerücht vom Buddha erscholl, überall in den Ländern Indiens horchten die Jünglinge auf, fühlten Sehnsucht, fühlten Hoffnung, und unter den Brahmanensöhnen der Städte und Dörfer war jeder Pilger und Fremdling willkommen, wenn er Kunde von ihm, dem Erhabenen, dem Sakyamuni, brachte.

Umwandlung
Wie wenn in einem Lande die Pest herrscht, und
es erhebt sich die Kunde, da und dort sei ein Mann,
ein Weiser, ein Kundiger, dessen Wort und Anhauch genüge,
um jeden von der Seuche Befallenen zu heilen, und
wie dann diese Kunde das Land durchläuft und jedermann
davon spricht, viele glauben, viele zweifeln, viele aber sich
alsbald auf den Weg machen, um den Weisen, den Helfer
aufzusuchen,
so durchlief das Land jene Sage, jene duftende Sage
von Gotama, dem Buddha, dem Weisen
aus dem Geschlecht der Sakya.
Ihm war, so sprachen die Gläubigen,
höchste Erkenntnis zu eigen,
er erinnerte sich seiner vormaligen Leben, er hatte
Nirwana erreicht und kehrte
nie mehr in den Kreislauf zurück,
tauchte nie mehr in den trüben
Strom der Gestaltungen unter.
Vieles Herrliche und Unglaubliche
wurde von ihm berichtet,
er hatte Wunder getan, hatte
den Teufel überwunden, hatte
mit den Göttern gesprochen. Seine
Feinde und Ungläubige aber
sagten, dieser Gotama sei ein eitler Verführer, er bringe
seine Tage in Wohlleben hin, verachte die Opfer, sei
ohne Gelehrsamkeit und kenne
weder Übung noch Kasteiung.

Süß klang die Sage von
Buddha, Zauber duftete aus
diesen Berichten. Krank
war ja die Welt, schwer
zu ertragen war das Leben – und siehe, hier schien
eine Quelle zu springen, hier schien
ein Botenruf zu tönen,
trostvoll, mild, edler Versprechungen voll.
Überall, wohin
das Gerücht vom Buddha erscholl, überall
in den Ländern Indiens horchten
die Jünglinge auf, fühlten
Sehnsucht, fühlten Hoffnung, und unter
den Brahmanensöhnen der Städte und Dörfer war
jeder Pilger und Fremdling willkommen, wenn
er Kunde von ihm,
dem Erhabenen,
dem Sakyamuni,
brachte.


Bibliographie

Bitan, Tali et al. (2007). The Interaction Between Orthographic and Phonological Information in Children: An fMRI Study. In: Human Brain Mapping 28 (2007) 9, 880 - 891. (doi:10.1002/hbm.20313).

Bitan, Tali et al. (2009). Developmental Increase in Top–Down and Bottom–Up Processing in a Phonological Task: An Effective Connectivity, fMRI Study. In: Journal of Cognitive Neuroscience 21 (2009), 1135 - 1145.

Bolger, Donald J. et al. (2008). Differential effects of orthographic and phonological consistency in cortex for children with and without reading impairment. In: Neuropsychologia 46 (2008) 14, 3210 - 3224. (doi:10.1016/j.neuropsychologia.2008.07.024).

Eviatar, Zohar & Marcel Adam Just (2006). Brain correlates of discourse processing: An fMRI investigation of irony and conventional metaphor comprehension. In: Neuropsychologia 44 (2006), 2348 - 2359.

Giessen, Hans W. (2004). Medienadäquates Publizieren. Heidelberg; Berlin: Spektrum Akademischer Verlag / Elesevier.

Matthews, Paul M. et al. (2003). Towards Understanding Language Organisation in the Brain Using fMRI. In: Human Brain Mapping 18 (2003), 239 - 247.


Mueller, Pam A. & Daniel M. Oppenheimer (2014). The Pen Is Mightier Than the Keyboard: Advantages of Longhand Over Laptop Note Taking. In: Psychological Science 25 (2014), 1 - 10. 



Autor:
Prof. Dr. Hans W. Giessen
Informationswissenschaft
Universität des Saarlandes
D-66041 Saarbrücken
E-Mail: h.giessen@gmx.net